“Der Kaiser der Freude” von Ocean Vuong: Schluss mit dem kaputten Leben | ABC-Z

“Sag mir, was willst du anfangen / Mit deinem einzigen wilden und kostbaren Leben?”, dieses Zitat der Lyrikerin Mary Oliver steht in der Entzugsklinik überall. Nur weiß der 19-jährige Hai nicht genau, wie das geht, das Leben leben. Stattdessen stellt er sich lieber an den Rand einer Brücke und spielt mit dem Gedanken, sich in die Fluten zu stürzen. Wir schreiben das Jahr 2009, Obama ist Präsident. Hai ist abhängig von diversen Pillen und Pulvern, hat sein Studium in New York abgebrochen und ist mit Schulden zunächst nach East Gladness in Connecticut zurückgekehrt, in die Stadt seiner Mutter, die einst mit ihm aus Vietnam in die Vereinigten Staaten flüchtete. Hier begegnet er Grazina Vitkus, einer dementen alten Frau aus Litauen, die ihn vom Selbstmordversuch abbringt.
Der Schriftsteller Ocean Vuong, Jahrgang 1988, wurde erstaunlich jung zum Star der internationalen Literaturszene. In deutscher Übersetzung erschienen sind zwei Lyrikbände, Nachthimmel mit Austrittswunden (2020) und Zeit ist eine Mutter (2022) sowie der viel beachtete Debütroman Auf Erden sind wir kurz grandios (2019). Wiederkehrende Themen in Vuongs Werk sind die Spuren des Vietnamkrieges, Traumata, Homosexualität, Armut und prekäre Beschäftigungsverhältnisse.
Auch Ocean Vuongs neuer Roman Der Kaiser der Freude erzählt von Menschen am Rande der Gesellschaft, die kaum etwas besitzen außer der Gemeinschaft miteinander. Grazina ist traumatisiert vom Zweiten Weltkrieg und lädt Hai ein, bei ihr zu wohnen. Um sie zu unterstützen, fängt Hai an, in einem Fast-Food-Restaurant auszuhelfen. Hier arbeitet bereits sein Cousin Sony, nach dem ersten Fernseher seines Vaters und einem Aufstiegsversprechen benannt. Der Roman erzählt wie nebenbei eine Sozialgeschichte der Vereinigten Staaten, von den horrenden Studiengebühren, der Opioidkrise und einer “beschissenen” staatlichen Krankenversicherung. Der Einzelne ist sich hier selbst überlassen, der amerikanische Liberalismus offenbart seine brutalen Effekte. In der Belegschaft des Restaurants entsteht Solidarität, obwohl die Mitarbeiter nichts weiter verbindet als der Mindestlohn. Sobald Hai sich in seinem neuen Leben eingefunden hat, entfaltet der Roman einen hinreißenden Sog.
Der Krieg zeichnet die Figuren und zieht sich motivisch durch die Handlung. Grazina erlebt mehrere Anfälle, sie fühlt sich in ihre Jugend und den Zweiten Weltkrieg zurückversetzt. Um ihren geistigen Zustand zu überprüfen, befragt Hai sie nach dem aktuellen Präsidenten: “Obama” (richtig), “Lincoln” (falsch), “Ich bin der Präsident der Vereinigten Staaten” (ganz falsch). Sony wiederum ist besessen vom US-amerikanischen Bürgerkrieg. Die traumatischen Erfahrungen des Vietnamkriegs von Großmutter und Mutter schreiben sich in Körper und Psyche von Hai fort.
Anders als in Auf Erden sind wir grandios gibt es in diesem Roman keine expliziten Sexszenen. Das Begehren liegt vor allem in Hais Blicken. Da ist der junge Veteran aus dem Irakkrieg, mit dem sich Hai für eine Nacht ein Bett in einem Motel teilt. Da gibt es einen Jungen, den Hai Noah nennt und der an einer Überdosis stirbt. Sie kennen sich von der Arbeit auf den Tabakfeldern. Noah erinnert an die Jugendliebe Trevor, eine Figur aus Vuongs Debüt.
Ocean Vuongs Sprache ist poetisch, präzise werden Sinneseindrücke geschildert. Die Beziehung zu Noah ist “eine dieser Freundschaften, die sich schnell ergeben, wie die Hitze an einem Julitag”. Trotz seiner Verwahrlosung ist es schön in East Gladness, wenn “das Licht diesen Ort mit einem hellbeigen Farbton übergießt”. Der lyrische Duktus bildet einen starken Kontrast zu den Traumata, die auf den Figuren dieses Romans lasten. Dabei ist er immer wieder humorvoll, hin und wieder albern (Genitalwitze) und lässt sich nicht von einer Larmoyanz vereinnahmen, die den Themen fast angemessen wäre.
Der Kaiser der Freude ist keine Autobiografie. Dennoch lassen sich viele Parallelen zum Leben des Autors aufzeigen: Hai ist wie Vuong aus Vietnam geflüchtet, in Armut aufgewachsen und queer. Auch Vuong war drogenabhängig, absolvierte einen Aufenthalt in einer Entzugsklinik, arbeitete in verschiedenen Fast-Food-Restaurants, brach sein erstes Studium ab. Eine kurze Zeit schlief der Schriftsteller in der New York Pennsylvania Station, bis er für zweieinhalb Jahre bei der Großmutter seines heutigen Partners Peter einzog. Grazina J. Verselis, der Vuong das Buch widmete, hat seiner Romanfigur das Leben gerettet.
Wie in seinem ersten Roman orientiert sich Vuong an ostasiatischen Erzähltraditionen. Es gibt hier keine klassischen Bösewichte, keine Opfer, keine klaren Handlungsbögen, Handlung wird nicht durch einen Konflikt vorangetrieben. Die Figuren dieses leisen, poetischen Romans, so viel sei verraten, erleben keinen rasanten sozialen Aufstieg, keiner steigt vom Tellerwäscher zum Millionär auf. Erlebt hat diesen Amerikanischen Traum nur Ocean Vuong selbst.
Ocean Vuong: Der Kaiser der Freude. Roman; a. d. Engl. von Nikolaus Stingl u. Anne-Kristin Mittag; Hanser, München 2025; 528 S., 27,– €, als E-Book 19,99 €