Radio Taiso in Japan: Nur zehn Minuten, aber die machen den Unterschied | ABC-Z

“Und jetzt geht’s weiter mit Level zwei!”, ruft eine männliche Stimme. Und dann, untermalt von Pianogeklimper: “Wir tippeln auf der Stelle! Nacheinander ziehen wir ein Knie an die Brust. Ja! Genau so!” Ob die Teilnehmenden hier alle Übungen korrekt durchführen, kann die Stimme nicht wissen. Sie ertönt über einen Ghettoblaster, den jemand mitgebracht hat. Aber es ist zu vermuten, dass die allermeisten genau wissen, was sie tun. Sie machen es ja jeden Tag, viele von ihnen seit Jahrzehnten.
Kurz vor 6.30 Uhr haben sich an einem Mittwochmorgen im Mai um die 100 Menschen im Rinshi-no-mori-Park im Westen Tokios auf einer großen Freifläche versammelt. Sie stehen jeweils ein paar Armbreiten entfernt. Wie jeden Tag beginnt auch heute um halb sieben eine der wichtigsten Gewohnheiten Japans: das gut zehnminütige Gymnastikprogramm Radio Taiso. Das Programm wird in Japan täglich
vom öffentlichen Rundfunksender NHK über Radio und TV ausgestrahlt. Dieser Park ist also nichts Besonderes. Auch in anderen Parks wird geturnt – und in Büros, Schulen und Küchen.
27 Millionen Japaner absolvieren zumindest
zweimal pro Woche das Programm von Radio Taiso. Studien zeigen, dass ältere Personen, die das Zehn-Minuten-Programm regelmäßig machen, messbar beweglicher, ausdauernder
und kräftiger sind als diejenigen, die ohne das Programm leben.
Gesundheitsexpertinnen sehen in Radio Taiso
einen wichtigen Grund dafür, dass die Menschen im ostasiatischen Land
weltweit dadurch auffallen, nicht nur alt zu werden, sondern auch lange
fit zu bleiben.
Populärer als Calisthenics
“Das ist völlig klar!”, sagt Tsuyoshi Ueda. “Würde ich das hier nicht machen, wäre ich längst
bettlägerig.” Ueda, ein 93-jähriger Herr mit knallgrüner Regenjacke und
Basecap, wohnt in der Nähe des Parks und ist mit dem Fahrrad
hergefahren. Der einstige Bauarbeiter kommt bei jedem Wetter, seit gut
30 Jahren. “Gestern hat’s geregnet. Da waren wir ein paar weniger.”
An diesem Tag machen die 80- und 90-Jährigen die
Übungen, als wäre es das Normalste, was Hochbetagte so tun. In Level
eins, während der ersten drei Minuten, ging es vor allem um leicht
rotierende Arme. Während der verbleibenden sieben Minuten ist der ganze
Körper im Einsatz. Etwas Schweiß tropft.
Der weltweite Boom
von Calisthenics, also Krafttraining mit Körpereigengewicht, der seit
einiger Zeit in sozialen Medien und Fitnesscentern zu beobachten ist,
führt in Japan nur zum Gähnen. Denn Radio Taiso verspricht vielleicht
nicht die gleiche Muskeldefinition wie all die anspruchsvolleren Übungen
der Oben-ohne-Poser auf YouTube. Aber dieses japanische
Programm hält schon viel länger durch, ist populärer und in vielen
Vergleichen wohl auch wirksamer für die langfristige Gesundheit. Allein
wegen der Regelmäßigkeit, mit der es betrieben wird.
Ein paar Meter von Tsuyoshi Ueda entfernt wickelt der 73-jährige Kazu
Shimomura das Stromkabel um den Ghettoblaster. Auch er ist schon
Rentner, kommt jeden Tag in den Park, steht dafür wie alle anderen kurz
vor sechs Uhr morgens auf. “Das Physische an den Übungen ist die eine
Sache”, sagt der Mann im grauen Sweater. “Aber es ist auch gut,
regelmäßig andere Leute zu treffen. Das hält uns gedanklich fit.” Und
der Gruppenzwang, zu erscheinen, motiviere dazu, morgens aus dem Bett zu
kommen.