Manchester United und Tottenham: Zwei Sorgenkinder an der Wegkreuzung – Sport | ABC-Z

Die Premier League denkt seit einigen Jahren darüber nach, einzelne Partien oder sogar einen kompletten Spieltag ins Ausland zu verlagern. Von einer solch beispiellosen Maßnahme erhofft sich die Liga nochmals eine Steigerung des internationalen Zuschauerinteresses, was wiederum der Vermarktung und den Fernseheinnahmen zugutekommen würde. Eine Kostprobe, wie das zukünftig aussehen und funktionieren könnte, gibt es nun quasi am Ende dieser Saison – wenn die beiden Großvereine Manchester United und Tottenham Hotspur ein rein englisches Finale in der Europa League austragen, im baskischen Bilbao.
Am Donnerstagabend checkten beide Klubs für ihre Reise an den schönen Golf von Biskaya ein. Manchester besiegte Athletic Bilbao 4:1 und Tottenham bezwang Bodö/Glimt mit 2:0. Nach den ebenso eindeutig gewonnenen Hinspiel-Duellen kamen selbst die zuletzt notorisch instabilen Klubs in den Rückspielen nicht mehr in Bedrängnis. Für den Höhepunkt sorgte Manchesters Mason Mount, der in der Nachspielzeit ein Kunstschusstor aus 40 Metern fabrizierte, als er den gegnerischen Torwart überlupfte.
:Englands gefräßige Raubfische
Drei Spiele, drei Siege, 10:2 Tore: Englands Topklubs legen den Fokus auf die kleineren Europapokal-Wettbewerbe – weil es hier für sie viel zu gewinnen gibt.
Parallel vervollständigte der FC Chelsea das englische Vorrücken in die Finals der kleineren Europacups, indem man in der Conference League souverän gegen Djurgårdens IF das Endspiel erreichte. Dramatik stellte sich diesmal lediglich bei der Suche nach Chelseas Finalgegner ein. Dank zwei Toren des deutschen Nationalspielers Robin Gosens erwirkte der AC Florenz immerhin eine Verlängerung gegen Real Betis, schied dann aber nach dem 2:2-Ausgleichstor aus, nachdem der Verein das Hinspiel verloren hatte. Sein Herz weine so sehr, kommentierte Gosens die Enttäuschung. Damit ist heuer nur ein deutscher Spieler in den Europapokalfinals vertreten: Inter Mailands Abwehrmann Yann Aurel Bisseck in der Champions League. Dessen türkischer Mitspieler Hakan Çalhanoğlu hat zumindest noch deutsche Wurzeln. Und ein gewisser Timo Werner steht bei Tottenham unter Vertrag, auch wenn er sportlich überhaupt keine Rolle mehr spielt.
United-Trainer Amorim ist bereits jetzt gestresst wegen des anstehenden Europa-League-Finals
Angesichts der souveränen Meisterschaft des FC Liverpool ist es nicht übertrieben, das Duell der englischen Sorgenkinder in der Europa League als das bedeutendste Fußballspiel auf der Insel in dieser Saison zu betiteln. Es stellt für die zwei Klubs eine Wegkreuzung dar: Für den Sieger geht es auf den Beschleunigungsstreifen einer Autobahn und für den Verlierer hingegen auf eine Schotterpiste. „Blockbuster in Bilbao“, so das Straßenschild der Medien. Die Zuspitzung würde der manchmal marktschreierisch kommunizierenden Premier League sicherlich gefallen.
Für die in der Ligatabelle abgeschlagenen Manchester (15.) und Tottenham (16.) geht es nicht nur um den Titel in der Europa League. Sondern auch um den damit einhergehenden Startplatz in der darüberliegenden Champions League in der kommenden Saison – verbunden mit Einnahmen von deutlich mehr als 100 Millionen Euro. „Bring home the bacon“, bringt die Brötchen nach Hause, fordert die Massenzeitung Sun in einer Redewendung.

Gewissermaßen suchen beide Klubs in der Europa League Vergebung für die in den anderen Wettbewerben unerfüllten Erwartungen. Dabei gehen die Interessenlagen ein wenig auseinander: Um die eigene Kernsanierung unter dem neuen Minderheitsbesitzer Jim Ratcliffe voranzutreiben, ist das hochverschuldete United auf ein Mitwirken an der Champions League angewiesen. Ohne die Geldspritzen würde man die Mannschaft nicht modernisieren können und neue Spitzenspieler kaum Interesse haben, sich dem Klub anzuschließen. Er sei schon jetzt ob des Finals gestresst, sagte United-Trainer Rúben Amorim: Wenn man verliere, sei alles nichts.
Priorität bei Tottenham hat der Titel an sich. Seit dem Sieg im League Cup 2008 wartet der Verein seit 17 Jahren sehnsüchtig auf einen Pokalgewinn. Bei den in diesem Zeitraum verlorenen Finals und knapp verpassten Ligatiteln schien den als tollpatschig verschrienen Spurs das Selbstvertrauen zu fehlen. Daran mangelt es zumindest dem jetzigen Trainer Ange Postecoglou nicht. Der Finaleinzug werde viele Leute verärgern, verspottete er die Kritik aus der Heimat, ob man wegen der schlechten Saison überhaupt würdig sei, eine Trophäe zu bekommen. Er konterte, wenn es einfach wäre, ein Finale zu erreichen, hätten es auch die topplatzierten Teams in der Liga geschafft.
Bisher haben die Engländer nur zweimal diesen Wettbewerb unter sich ausgemacht, 1972 begegneten sich Tottenham und Wolverhampton sowie 2019 Chelsea und Arsenal. Durch die dritte Auflage steht fest, dass die Premier League in der kommenden Saison sechs Klubs in der Champions League stellt – so viele wie kein Land zuvor.