Kultur

Studie „Der Holocaust als Meme“ über Geschichtsumdeutung | ABC-Z

Tiktok, Instagram und Co. sind mehr als ein bloßer Zeitvertreib für Jugendliche. Sie beschaffen sich ihre Informationen primär in den sozialen Medien, noch bevor etwas im Klassenraum thematisiert wird. Nicht selten haben digitale Formate zur Geschichts- und Wissensbildung mehr als eine Million Aufrufe. Aus der Sicht von jungen Erwachsenen ist das verständlich: Die Angebote sind niederschwellig, Informationen werden in einer verständlichen Sprache aufbereitet, und über die Kommentarfunktion kann man seine eigene Meinung kundtun, was anderswo oft verwehrt wird. Damit einher gehen Verzerrungen sowie revisionistische Umdeutungen von Geschichte, und zwar in einem erschütternden Ausmaß, wie der gerade publizierte Digitalreport „Der Holocaust als Meme“ der Bildungsstätte Anne Frank veranschaulicht.

Die von der politischen Rechten weltweit angeführte Debatte um die Deutung der Geschichte hat längst den digitalen Raum erreicht. 38,1 Prozent der 16- bis 25jährigen stimmten einer Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung zufolge der Forderung zu, „endlich“ einen Schlussstrich unter die NS-Zeit zu ziehen. Woher haben sie diese Ansicht? Aus den sozialen Netzwerken. Dort sind rechtsextreme Influencer nämlich über allen Maßen präsent und haben längst verstanden, wie sie junge Menschen auf ihre politische Agenda einschwören. Sie sind jung, hip, haben ein zugleich harmloses wie sympathisches Auftreten und stellen die banale Frage: „Was ist mit den deutschen Opfern?“ Das entspinnt sich dann schnell zu einer Umdeutung der Naziverbrechen. Angereichert wird das mit gezielten Falschinformationen, wie beispielsweise durch die Chiffre „271k“, der zufolge im Holocaust nicht sechs Millionen Juden ermordet worden sein sollen, sondern 271.000. Ein anderes Beispiel ist die Mär von Anne Franks Kugelschreiber, die besagt, das Tagebuch von Anne Frank sei eine Fälschung. Jugendliche, deren Geschichtsbild nicht gefestigt ist, vermuten hinter solchen Aussagen erst einmal keine problematischen Absichten. Ihr Wissensdurst ist groß, das stellt auch die Bildungsstätte Anne Frank fest. Zeitgemäße Formate und vereinfachende Darstellungen kommen diesem nach.

KI-generierte Geschichte

Tiktok gilt hier als Inkubator. Informativer historischer „Content“ (Inhalt) auf dem Netzwerk stammt oftmals von einer generativen Künstlichen Intelligenz. Weit verbreitet ist eine KI-generierte Anne Frank, die ihre Geschichte erzählt, samt fehlerhaften Angaben wie der, sie sei in Auschwitz umgekommen (tatsächlich starb Anne Frank im Konzentrationslager Bergen-Belsen). Ebenso trifft man auf Tiktok auf einen KI-generierten SS-Arzt Josef Mengele, der stolz von seiner angeblichen Läuterung berichtet und abschließend bekundet: „Ich bin ein Monster in menschlicher Gestalt.“ Dass der Kriegsverbrecher Mengele, der menschenverachtende medizinische Versuche an KZ-Häftlingen vornahm, tatsächlich bis zu seinem Tod 1979 als überzeugter Nazi in Südamerika lebte, wissen die wenigsten. Verbreitet wird nicht nur die falsche Vorstellung, Mengele sei reumütig gewesen, sondern es findet auch eine Isolierung der Täter statt, wodurch der Gesamtkontext Nationalsozialismus verschleiert wird.

Ein auf Tiktok mittlerweiler allgegenwärtiger Vergleich zwischen der Schoa und dem Nahostkonflikt, hier von dem Account @sani.ahmadsani.ahmad/Tiktok

Unter dem Hashtag „Holocaust-Challenge“ können sich Nutzer mittels Filter als Opfer inszenieren und selbst Opfergeschichten verbreiten. Das deutet die Ereignisse zwar nicht um, trivialisiert sie aber maßlos. Daran lässt sich aber verdienen. Wiederholt weisen die Autoren des Berichts der Bildungsstätte Anne Frank darauf hin, dass sich hinter diversen Social-Media-Trends Geschäftsmodelle verbergen. Ein Trend ist die Kombination historischer Situationen mit Popsongs. Eine Tiktok-Nutzerin bespielt das Bild eines Krematoriums mit dem Song „Love the Way You Lie“ von Eminem und Rihanna, der die Zeile „Just gonna stand there and watch me burn“ enthält. Das Video erzielte über drei Millionen Aufrufe. Hinter vermeintlich schwarzem Humor verbirgt sich strategische Provokation, mit der man mediale Reichweite erzielt. Vergleiche zwischen Auschwitz und Gaza sind allgegenwärtig. Besonders perfide ist die Gleichsetzung von Juden mit Nazis, die nicht selten mit dem Hashtag „Nie wieder ist jetzt“ versehen wird. Das Gedenken an die Schoa wird instrumentalisiert, um Geschichte zu relativieren und Israel zu dämonisieren.

Auf Tiktok hat sich eine regelrechte Parallelwelt etabliert, die ihren eigenen historischen Narrativen folgt. Ein Beispiel: Seit ihrem Tod 2024 wird die rechtsextreme Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck im Netz zu einer Märtyrerin stilisiert. Es findet eine digitale Massentrauer um die vermeintlich letzte Vorkämpferin der Meinungsfreiheit statt, von der außerhalb der digitalen Räume kaum jemand Wind bekommen hat. Die Bildungsstätte Anne Frank rückt all dies in Licht der Öffentlichkeit. Politisch Verantwortlichen und Lehrkräften, meinen die Autoren der Studie, mangele es an Ressourcen, Kompetenz und dem nötigen Bewusstsein, um des Problems Herr zu werden. Viel zu oft würden digitale Inhalte als „Unterhaltung“ abgetan. „Während in formellen Bildungsräumen immer weniger Wissen zur Schoa vermittelt zu werden scheint, erfreut sich das Thema NS-Historie in sozialen Medien oder digitalen Games einer großen Beliebtheit“, sagt die Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank und Herausgeberin des Digitalreports, Deborah Schnabel. „Hier werden Geschichtsnuggets neben anderen Lifestyle-Themen in die Feeds und For-You-Pages gespült. Wir sehen alles von gelungenem Bildungscontent bis hin zu offenem Geschichtsrevisionismus oder Holocaust-Leugnung.“ Von Faktenchecks und Moderation hingegen ist bei Instgram wenig und bei Tiktok nichts zu sehen.

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