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Darum ist der Merlin-Polzin-Effekt beim HSV enorm | ABC-Z

„HSV, HSV, HSV!“, brüllten die Fans des Klubs im Block auf der Tribüne, und unten, auf dem Rasen stimmte Merlin Polzin, der Trainer, mit ein. Immer wieder feuerte er dabei seine linke Faust in die Höhe. Das, was in den ersten Minuten nach dem 4:0-Erfolg des Hamburger SV beim SV Darmstadt 98 zu sehen war, könnte die vorletzte Etappe einer Reise sein, die für einige schon als eine Art mission impossible galt: die Rückkehr des HSV in die Fußball-Bundesliga.

Im siebten Jahr kämpfen die Verantwortlichen darum, immer wieder scheiterten sie knapp oder sogar dramatisch. Nun könnte den Klub ein Mann wieder nach oben führen, der den Puls des HSV so sehr fühlt wie nur wenige Trainer vor ihm.

Sein Vater hat ihn schon als kleinen Jungen mit ins Volksparkstadion genommen. Viele Jahre stand Polzin in der Nordkurve, dort, wo die härtesten und treuesten Anhänger ihren Klub anfeuern. Als der HSV Ende April 2010 im Halbfinale der Europa League 1:2 beim FC Fulham verlor, war auch der damals 19 Jahre alte Polzin unter den mitgereisten Anhängern. Nie mehr hat der HSV seither einen internationalen Wettbewerb erreicht, stieg im Sommer 2018 sogar aus der Bundesliga ab. Inzwischen steht Polzin an der Seitenlinie. Mehr Kitsch gibt es im modernen Fußball kaum noch.

„Wir wurden weltklasse eingestellt“

34 Jahre ist er alt, erst vor wenigen Wochen hat Polzin den ProLizenz-Lehrgang des Deutschen Fußball-Bundes erfolgreich abgeschlossen. Auch gegen Darmstadt bewies er, dass er durch seine Taktik ein Spiel verändern, dass er es sogar gewinnen kann. Der HSV kam lediglich auf 37 Prozent Ballbesitz, schoss nur zehn Mal auf das Tor (Darmstadt: 21) – und siegte am Ende durch Tore von Ludovit Reis (23. Minute), Ransford-Yeboah Königsdörffer (58.), Davie Selke (80.) und Robert Glatzel (90.+5) trotzdem auch in dieser Höhe verdient.

„Wir wurden heute von unseren Trainern weltklasse eingestellt“, sagte Mittelfeldspieler Jonas Meffert. „Unser Plan war es, dass wir mehr in der gelben Zone, im Mittelfeldpressing, arbeiten wollten, weil wir uns dadurch die Sicherheit geholt haben. Es war genau der richtige Plan.“ Der beste Angriff der Liga überließ dem Gegner den Ball und suchte seine Chance im Umschaltspiel.

In den Wochen zuvor waren die Zweifel wieder einmal gewachsen in Hamburg. Drei Spiele ohne Sieg gegen Braunschweig (2:4), Schalke (2:2) und den Karlsruher SC (1:2) hatten Spuren hinterlassen, auch die Teampsychologin war wieder gefragt. Als eine Stunde vor dem Spiel in Darmstadt im Inneren des Stadions die Aufstellungen verteilt wurden, schüttelte der Reporter der „Bild“-Zeitung ungläubig den Kopf und sagte: „Jetzt verlieren sie wieder die Nerven.“

Dabei hatte Polzin seine Formation nur auf zwei Positionen getauscht: Auf dem rechten Flügel lief der erst 19 Jahre alte Fabio Baldé anstelle von Emir Sahiti auf; im offensiven Mittelfeld startete Königsdörffer statt des Tschechen Adam Karabec. „Es ging weniger darum, dass wir den perfekten Fußball spielen wollten“, sagte Polzin später: „Wir wollten wettkämpfen. Wir wollten es schaffen, diese Eins-gegen-eins-Duelle zu gewinnen.“

Jeder HSV-Trainer scheiterte zuletzt

Die Rechnung in Hamburg für das Saisonfinale ist deshalb einfache Mathematik. Ein Sieg aus den verbleibenden Spielen gegen Ulm und in Fürth genügt für den Aufstieg. „Jetzt haben wir genau das, was wir wollten: ein Finale zu Hause“, sagte Selke mit Blick auf das Spiel am kommenden Samstag (20.30 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur 2. Bundesliga, bei Sky und Sport1) gegen Ulm: „Und da werden wir den finalen Schritt gehen.“

Davie Selke sorgt für die Tore beim Hamburger SV.dpa

Aus dem vermeintlich besten Kader der Liga hat Polzin die beste Mannschaft geformt. Mit Stürmer Selke, der schon 21 Tore erzielt hat und auch als emotionaler Anführer vorangeht; mit Miro Muheim, der gegen Darmstadt als Linksverteidiger bereits seine elfte Torvorlage lieferte; mit Flügelstürmer Jean-Luc Dompé, der seinen Gegenspieler an guten Tagen Knoten in die Beine tanzt. Der Polzin-Effekt ist enorm, das spiegelt sich nicht nur in der Stimmung rund um die Mannschaft, sondern auch in den Statistiken.

Unter ihm gewann der HSV durchschnittlich 1,89 Punkte pro Spiel (Baumgart: 1,53), schoss ähnlich viele Tore (Polzin: 2,2; Baumgart 2,15), ließ aber in der Defensive nicht mehr so viele zu (Polzin: 1,1, Baumgart: 1,46). Dass sich der HSV in der Winterpause mit den Verantwortlichen des SC Paderborn nicht über einen Wechsel von Lukas Kwasniok einigen konnte, erweist sich längst als Glücksfall.

„Ich mag gar nicht darüber sprechen“

Schon mit 20 Jahren musste Polzin seine eigene Laufbahn beenden. Die Ärzte hatten bei ihm eine Arthrose in den Zehen diagnostiziert. Auf seinem Facebook-Kanal schrieb er damals: „Ich mag gar nicht darüber sprechen. Mir wurde das Wichtigste im Leben geraubt. Ich darf kein Fußball mehr spielen.“

Als Abwehrspieler kam er auf einen Einsatz in der Oberliga Hamburg für den Bramfelder SV. Schon da hatte er eine Jugendmannschaft betreut und stieg ein Jahr später als Trainer zunächst ins Nachwuchsleistungszentrum des HSV ein. An der Universität Osnabrück studierte er später Lehramt und wurde dort Ko-Trainer von Thioune, der damals die U 17 des VfL trainierte.

Zusammen stiegen sie auf, wechselten nach Hamburg – und als Thioune dort entlassen wurde, durfte Polzin bleiben. Immer wieder hat Jonas Boldt, der langjährige Vorstand Sport, betont, welch großes Talent er in Polzin sehe. Boldts Nachfolger, Stefan Kuntz, hat ihm und seinen beiden Assistenten, Loic Favé, 31 Jahre, und Richard Krohn, 29 Jahre, schließlich das Vertrauen ausgesprochen. Jeder von ihnen ist ein gebürtiger Hamburger.

Nach dem Abpfiff in Darmstadt hat Polzin seine Spieler gefragt, ob sie zwei freie Tage haben möchten. „Es war direkt das Veto da“, sagte der Trainer. „Wir trainieren morgen also ganz normal, wir arbeiten das Spiel ganz normal auf, machen dann einen Tag frei – und dann greifen wir wieder an.“ Polzin erzählte das nicht ohne Stolz in der Stimme.

Es war, als führe er in diesem Moment einen Beweis dafür an, dass der HSV zurecht dort steht, wo er steht. „Einen noch, einen noch, einen noch!“, rief Glatzel in Darmstadt auf dem Platz, dabei hielt er immer wieder einen Zeigefinger in die Kamera. Ein Sieg noch – und der HSV wäre zurück in der Fußball-Bundesliga. „Wir freuen uns auf nächste Woche“, sagte Polzin: „Auf ein ausverkauftes Volksparkstadion, das wahrscheinlich so laut sein wird wie noch nie.“ Er weiß genau, wovon er spricht.

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