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Russlands Angriffe auf Krywyj Rih und Sumy | ABC-Z

Erst wurden die Kinder begraben, dann die Künstlerin Margarita. Vielleicht darf man in der Karwoche darüber schreiben. Eine russische Rakete trifft am helllichten Tag einen Spielplatz. Neun Kinder sind tot. Ich frage mich, wie fühlen sich Eltern in der Ukraine? Der Horror hängt über allen. Die Luftabwehr reicht nicht aus. Das weiß auch jeder von uns hier. Es kann überall passieren, diesmal in Krywyj Rih am Palmsonntag in Sumy. Ich sehe die zusammengebundenen Hände eines Kindes im Sarg, das Gesicht eines Mannes, der sich über dieses Kind beugt, verzerrt von Schmerz und Liebe – und mein Verstand setzt aus.

Der vierte Kriegsfrühling. Ich fahre durch Berlin und registriere, am Rande der Wahrnehmung, ein paar vergilbte ukrainische Flaggen an den Balkonen. Das Geschehen in der Ukraine wird nur noch am Rande wahrgenommen, verblasst durch die Dauer, die Aussichtslosigkeit und, ja, es sind bald wieder Ferien. Die grellen Farben aus Krywyj Rih brechen durch die Abstumpfung. Eine spontane Gedenkstätte ist auf diesem Spielplatz entstanden: haufenweise Spielzeug auf den Schaukeln, auf dem Karussell, im Sandkasten. Bunt, wie Ostereier.

Briefe an den Himmel

Am Tag nach dem Angriff auf den Spielplatz: der Tod von Margarita Polovinko, Dutzende Fotos von ihr auf Instagram. Eine junge hübsche Frau: modische Frisur, eine selbst gedrehte Zigarette in der Hand. Etwas verspielt schaut sie an der Kamera vorbei. Trauer, Empörung, Ohnmacht. Sie sammelte doch gerade Geld für ihre Einheit! Freunde posten Bilder aus verschiedenen Zeiten, viele haben mit ihr an der Kunstakademie in Kiew studiert. Sie war etwas älter als meine Kinder. Dann postet jemand ein Foto von ihrer Diplomarbeit: Ein Pferd aus Papiermaché auf dünnen Beinen – dünn wie Margarita, eher die Seele eines Pferdes als sein Körper – erhebt sich über alle und blickt durch das Fenster, als würde es gleich hinausfliegen.

Ich kannte Margarita nicht persönlich, aber folgte ihr, so wie vielen ukrainischen Künstlern in den sozialen Netzwerken. Manche bezeichneten sie als Shootingstar der ukrainischen Kunst. Auch sie stammte aus der Industriestadt Krywyj Rih, wie die gerade getöteten Kinder. In ihrer Kunst interessierte sie sich für postindustrielle Landschaften, für die Menschen am Rande. Sie malte fabelhafte Wesen und Gärten, große Ölgemälde. Mit dem Krieg wechselte sie zu Skizzen mit Kugelschreiber, zum automatischen Registrieren des Schmerzes. Nach Butscha, nach allem, was man dort gesehen hatte, malte sie in grober Schattierung mit dem Bleistift – als wollte sie den Tod übermalen – einen schreienden Kinderengel: ein Mädchen aus Irpin, „das über die Hässlichkeit der Welt hinwegfliegt“.

Vielleicht hat dieser Schrei Margarita in den Krieg gerufen, und sie hat sich mit Mut und Klarheit immer tiefer in den Krieg begeben wie in einen Trichter. Erst half sie beim Aufbau von zerstörten Häusern zwischen Cherson und Mykolajiw, dann war sie Sanitäterin bei der Evakuierung von Verletzten von der Frontlinie. Ende 2024 meldete sie sich freiwillig an die Front – und nun ist sie als Soldatin gefallen. Ich sah ihre Kriegsbilder einmal in einer Ausstellung in Kiew: Landschaften, verstümmelte Körper, Häuser gemalt mit ihrem eigenen Blut, als würde sie mit ihrem Körper die verwundete Welt manifestieren, als wäre es der Stoffwechsel des Krieges. Blut färbt alles: Zwei Figuren sitzen unter dem Baum in Umarmung „Lovers before ­death“. Ihr Blut war kein Hilferuf, meinte sie, sondern ein Material, das dem Krieg entsprach.

Ihre Künstlerfreunde fuhren aus Kiew nach Krywyj Rih zum Begräbnis. Dort trafen sie auf Margaritas Kameraden von ihrer Einheit, und so standen sie am Grab zusammen. Es wurden kaum Bilder gemacht. Danach zogen die Künstler durch die postindustrielle Landschaft und fotografierten die spärliche Vegetation, Wege, die beim Regen vom Erz rot werden, und einen Teich im Steinbruch. „Margarita’s Paradise“, schrieb jemand dazu. Ich denke an ihr dünnes Pferd und an die Spielplatz-Gedenkstätte in Kryvyj Rih, an einen Dreijährigen namens Zwitok, Blume, der niemals wachsen wird, und bemerke zwischen den Spielsachen einen Zettel mit Kinderschrift: „Brief an den Himmel“.

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