Warum der Trend um das „Cortisol-Face“ Unsinn ist | ABC-Z

Eine junge Frau namens Brooke blickt in die Kamera, dreht und wendet ihr herzförmiges Gesicht, um es den Tiktok-Zuschauern zu präsentieren. Sie trägt ihre langen blonden Haare zu Zöpfen geflochten, hat hohe Wangenknochen und eine definierte Kinnpartie. Was sie den Zuschauern zeigt, ist ihr „Nachher“-Gesicht: So nennt Brooke ihre Erscheinung, nachdem sie ihren angeblich zu hohen Cortisolspiegel „entgiftet“ haben will. Diesen vermeintlich hohen Spiegel hatte kein Arzt ihr attestiert, sondern sie sich selbst.
Um den Zuschauern ihr früheres Aussehen zu demonstrieren, ihr „Cortisol-Face“, wie es im Tiktok-Vokabular heißt, werden alte Bilder eingeblendet. Auf diesen empfindet Brooke ihr Gesicht als „aufgequollen“ und „rundlich“ – fast sehe sie wie ein anderer Mensch aus. Das Video hat über eine halbe Million Likes.
Doch keine Sorge, so hässlich müsse man nicht bleiben, prophezeit auch Nutzerin Mandana in einer cremefarbenen Sportjacke. Ihr Rezept, um das „Cortisol-Face“ loszuwerden? Verdünnter Apfelessig auf nüchternen Magen, zehntausend Schritte täglich, grüner Tee, Gesichtsmassagen mit einem rund geschliffenen Edelstein.
Die medizinische Evidenz oder Prüfung fehlt
Die Botschaft dieser Frauen ist kein Einzelfall auf Tiktok. Unter dem Hashtag „Cortisol“ finden sich mittlerweile mehr als 300.000 Ergebnisse. Ein rundliches Gesicht oder etwas Bauchfett werden hier für Klicks und Likes zu krankhaften Symptomen erklärt. Mit Aufklärung für Personen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen hat das nicht im Geringsten zu tun.
Den Cortisolwert willentlich zu beeinflussen, um sein Äußeres zu verändern, ist dabei nur einer der vielen absurden wie riskanten Auswüchse, die den sozialen Medien entspringen. Als wäre die Gesundheitskompetenz der Deutschen nicht schon gering genug, wird sie so – abseits jeder medizinischen Evidenz oder Prüfung – völlig in die falsche Richtung gelenkt. Nicht selten mit Schaden fürs Wohlbefinden.
Cortisol ist ein lebensnotwendiges Hormon, das den Körper leistungsfähig macht. Es wird in den Nebennieren gebildet und unterliegt einem zirkadianen Rhythmus, also normalen Schwankungen im Tagesverlauf. In psychischen wie physischen Stresssituationen spielt es eine besondere Rolle, dann nämlich wird zusätzliches Cortisol freigesetzt, um den Körper für die Belastung zu stärken. Cortisol sorgt dafür, dass das Herz kräftiger schlägt, die Atemfrequenz steigt. Es fördert die Aufmerksamkeit und kurbelt den Stoffwechsel an. Cortisol dämpft aber auch das Immunsystem, der Körper muss seine Kraft bei Belastung anders nutzen als für die Infektabwehr. Ein Grund, warum Menschen, die ständig unter Strom stehen, vermutlich irgendwann krank werden. Diese immunsupprimierende Wirkung von Cortisol macht sich die Medizin übrigens zunutze und gibt es als Medikament unter anderem gegen Entzündungen.
Was auf Tiktok als „Cortisol-Face“ bezeichnet wird, ist in der Endokrinologie als „Cushing-Syndrom“ bekannt – ein Krankheitsbild, das durch einen Überschuss des Hormons verursacht wird. Wichtig an der Stelle: Tiktokerinnen, die von einem runden Gesicht sprechen, haben in keiner Weise ein Cushing-Syndrom; für Klicks springen sie auf den Trend auf.
Das Syndrom kann durch eine krankhafte Veränderung der Nebennieren oder der Hypophyse entstehen oder die Folge einer Cortisontherapie sein. Neben einem rundlichen Gesicht sind außerdem Symptome wie Stammfettsucht, Akne, Bluthochdruck, Knochenschwund und Streifen an der Haut ein Zeichen für das Cushing-Syndrom. Betroffene leiden also auch unter immensen äußerlichen Veränderungen. Mit diesem Wissen ist es geradezu boshaft, dass sich auf Tiktok über ein vermeintliches „Cortisol-Face“ ausgelassen und medizinischer Nonsens verbreitet wird.
Wer unter Stress leidet, kann mit einem eher ruhigen Lebensstil seinen Cortisol-Spiegel sicherlich gut im Gleichgewicht halten. Ihn willentlich zu entgiften, ist aber weder möglich noch gesundheitlich erwünscht.
Das Beispiel Cortisol zeigt, wie schnell sich in den sozialen Medien unter einem Schlagwort eine Bewegung zur Selbstoptimierung bildet. Und viele der User liken es, ohne nach Evidenz und Expertise zu fragen. Schneller als Experten aufklären können, entstehen auf Plattformen wie Tiktok Trends, die mitunter nicht nur gefährlich, sondern krank machend oder gar tödlich sind. Nach der sogenannten „Paracetamol Challenge“ Anfang des Jahres, bei der Menschen das Schmerzmittel in Mengen bewusst über der zugelassenen Dosierung eingenommen haben, um zu beweisen, dass sie auch hohe Dosen überleben, war jetzt Cortisol dran. Der nächste medizinische Unsinn am Tiktok-Horizont wird nicht lange auf sich warten lassen.