Wie ich herausfand, was mein Großvater als Nazi tat | ABC-Z

Vater und Täter: Ernst Hemicker mit seinem Sohn Peter während des Zweiten WeltkriegsDokumente/Fotos: Niederösterreichisches Landesarchiv/Frank Roth, bearb. F.A.Z.
Im Hochsommer 2024 sitze ich in einem Zug, der von Wien nach Westen rollt. Tunnel folgt auf Tunnel. Ab St. Pölten wird es bergiger, mein Puls wird schneller. Ich bin angespannt. Meine Augen mustern jede einzelne Erhebung, der einen entgegenfiebernd, derentwegen ich hierher reise. Der Wachberg. Ein Ort des Todes. Ernst Hemickers letzter Einsatzort. Die Möglichkeit, dass mein Großvater, ein SS-Offizier, in Österreich an Verbrechen beteiligt gewesen sein könnte, hatte ich lange Zeit verworfen. Laut den SS-Akten hatte er im Frühjahr 1944 die Leitung einer Großbaustelle in Niederösterreich übernommen. Die Justiz im Nachkriegsdeutschland hatte daran keinen Anstoß genommen. Und auch was Ernst in den Sechzigerjahren aussagte, klang für mich unverdächtig: 6000 Häftlinge habe er beschäftigt, ein Drittel von ihnen Juden. Eine bunt gemischte Arbeitsbrigade, dachte ich, kein Vernichtungskommando. Dazu passte auch, was er noch hinzufügte: Nein, er habe niemals auch nur einem Einzigen von ihnen etwas zuleide getan. Im Gegenteil habe er „die Juden immer als Menschen behandelt“. Wer für einen arbeitet, muss auch gut behandelt werden. Ich glaubte, was ich las. Vielleicht wollte ich es auch einfach zu gern glauben. Ich fühlte mich ermattet von dem Grauen, von dem ich bereits wusste. Bei Riga hatte mein Großvater 1941 geholfen, mehr als 27.000 Juden zu erschießen. Er hatte die Gruben für das Massaker geplant, bei einer Erschießung zeitweise Aufsicht geführt.
Als die Luftangriffe der Alliierten die deutsche Rüstungsindustrie immer härter trafen, planten die Nazis unter größter Geheimhaltung die Verlagerung der Produktion – unter Einsatz von KZ-Häftlingen. Das Projekt „Quarz“ war eines der größten.Foto: United States Holocaust Memorial Museum
Wenige Minuten später hält der Zug in Melk. Auf dem Bahnsteig werde ich erwartet. Ein Mann mit Dreitagebart und Basecap reicht mir die Hand. Christian Rabl leitet die KZ-Gedenkstätte Melk. Für meine Recherche hat er sich bereit erklärt, mein Scout zu sein. Wenige Meter hinter dem Bahnhof fällt mein Blick auf das Benediktinerstift, das sich mit seiner weiß-gelben Barockfassade über der malerischen Altstadt erhebt. Die monumentale Architektur des Klosters zieht viele Touristen an. Das sei schon immer so gewesen, sagt Rabl. Hitler selbst habe auf den Schutz der Abtei in Melk Wert gelegt – als Gegenstand der NS-Propaganda. Für den Fall alliierter Luftangriffe habe der Abstand zum Untertageprojekt „Quarz“ deshalb drei Kilometer betragen.
Als die alliierten Bomberverbände ab Mitte 1943 immer häufiger gezielt deutsche Rüstungsbetriebe angriffen, suchten NS-Führung und Rüstungsindustrie nach einem Ausweg. Da die Reichsluftwaffe bereits viel zu schwach war, um die Bomber aufzuhalten, planten die Nazis, vor allem die Produktion von Jagdflugzeugen samt den wichtigsten Zulieferbetrieben unter Tage zu verlagern. Der zuständige Krisenstab identifizierte 18 Millionen Quadratmeter Produktionsfläche, die geschützt werden mussten – eine Fläche von mehr als 2500 Fußballfeldern. Deshalb wurden zahlreiche neue Stollenanlagen gebaut. „Quarz“ war eine der wichtigsten: groß, aufwendig, teuer – und nur unter enormen menschlichen Opfern in die Erde zu treiben. Der Mann, dem Himmler die Durchführung der Bauprojekte anvertraute, war Hans Kammler. Er baute eine eigene, unabhängige Organisation auf. Die Männer, die für ihn arbeiteten, zog der SS-General aus allen Teilen des schrumpfenden Reichs heran. Die Bürokraten im zunehmend unterbesetzten Verwaltungsapparat der SS konnten mit den Veränderungen kaum Schritt halten, so rasch wurden nun Marschbefehle erteilt. Christian Rabl führt mich an einem Einkaufszentrum vorbei zu einem kleinen Sportplatz. Auf dem Gelände ist nicht viel los. Nur vor den Baracken des örtlichen Rugbyclubs macht sich ein Mann an ein paar Holzbrettern zu schaffen. Hinter dem Platz erhebt sich der Bahndamm mit einer Lärmschutzwand, auf der ein Graffito prangt.
Kunst als Mahnmal: Wo in Melk einst die KZ-Häftlinge in Waggons gepfercht zum Wachberg transportiert wurden, erinnert heute ein Graffiti an die menschenverachtenden Verhältnisse.Foto: Lorenz Hemicker
Es besteht aus einem Zifferblatt mit abgeknickten Zeigern, von dessen Rückseite die mechanischen Einzelteile wie Schrauben, Muttern und Kugeln wegzufliegen scheinen. Roter Stacheldraht ist zu sehen, Industrieschlote, bedrohliche Dunkelheit. Hier, so Rabl, war die Haltestelle, an der damals täglich die KZ- Häftlinge in Viehwaggons von Melk zum Wachberg gebracht wurden. Daran erinnere das Gemälde des Künstlers. Fast 15.000 Menschen seien zwischen April 1944 und April 1945 im KZ oberhalb der Stadt eingesperrt gewesen, um den Stollenbau im Wachberg voranzutreiben. Kriegsgefangene, Partisanen, Kriminelle – und Juden. Fast jeder Dritte von ihnen sei an Hunger, Krankheit, Gewalt oder Erschöpfung gestorben. Der österreichische Historiker Bertrand Perz hat in seinem Buch über das KZ Melk und das Projekt „Quarz“ die Verhältnisse an der Strecke hinreichend beschrieben. Der Plan, die Häftlinge sollten sich ausschließlich in den Stollen verausgaben, wurde durch die Realität des zusammenbrechenden Reichs untergraben. Im Dreischichtbetrieb sollten die Tausendschaften rund um die Uhr zwischen dem Untertageprojekt und dem KZ hin- und herpendeln. Die Züge kamen aber oft erst Stunden später an. In der Zwischenzeit mussten die Häftlinge bei Hitze, Regen und Schneesturm in dürftiger Kleidung und ohne jeden Schutz auf den Gleisen ausharren. Fliegeralarme und der Terror der SS-Wachmannschaften taten ihr Übriges.
War mein Großvater damals auch am Bahndamm, um die Häftlinge zu bewachen? Nein, sagt Rabl, als wir weitergehen, das sei unwahrscheinlich. Für die Bewachung der Häftlinge habe es eine eigene Lager-SS gegeben, die vom KZ Mauthausen gestellt worden sei. Kammlers Leute hätten sich im Gasthof Amasser, drüben in Loosdorf, einquartiert. Von dort aus seien sie ins benachbarte Roggendorf gefahren und hätten sich um die Leitung der Baustelle gekümmert. Von den Überlebenden, die nach dem Krieg über ihre Zeit im Wachberg berichteten, habe sich aber keiner an Ernst Hemicker erinnert. So wie im Baltikum, denke ich. Die SS-Führer waren namenlose Männer in Schwarz. Wer ihren Überlebenskampf dirigierte, blieb den Menschen verborgen.
Nachmittags fahre ich auf einem Fahrrad durch die engen Straßen von Roggendorf. Menschen sehe ich kaum, aus einem Garten röhrt ein Rasenmäher. Provinz pur. Freunde machten sich der SS-Führungsstab und die Firma Quarz, die das Gros der Arbeit zu organisieren hatte, von Anfang an nicht. Im Gegenteil. Sie „fielen in Melk, Loosdorf und Umgebung regelrecht ein“, schreibt Bertrand Perz. Das Baukonglomerat nahm keine Rücksicht auf bestehende Regeln, an die sich zumindest die Nazis untereinander zu halten hatten. Zwischen den Kammler-Leuten und den örtlichen Größen krachte es gewaltig. Die SS ging brachial zu Werk. Als es nicht gelang, in kurzer Zeit Tausende Unterkünfte für die Betriebe vor Ort aus dem Boden zu stampfen, zeigten die SS und der Abwehrbeauftragte der Firma Quarz den Melker Landrat und den Bürgermeister von Loosdorf bei der Gestapo an. Bald trafen Beschwerden der Behörden über die SS beim zuständigen Gauleiter ein. Kammlers Leute und die beteiligten Firmen, so geht aus den Briefen hervor, benahmen sich mehr wie Besatzer als wie Gäste. Sie rodeten, zertrümmerten Wege und veränderten Gebäude, wie es ihnen gefiel. Wer sich ihnen widersetzte, dem drohten die Männer in den schwarzen Uniformen damit, sich selbst bald im Konzentrationslager Melk wiederzufinden.
Ernst machte mit. Das folgt schon aus der geringen Größe des SS-Führungsstabs vor Ort. Er bestand nur aus sechs Personen. Schreiben aus jener Zeit, die zwischen den Dienststellen verschickt wurden und im Niederösterreichischen Landesarchiv erhalten geblieben sind, belegen seine Rolle. Da ist die Anzeige bei der Gestapo-Außenstelle, datiert auf den 6. April 1944. Sie ist unterschrieben vom Abwehrbeauftragten des Bauvorhabens „Quarz“ – und von Ernst Hemicker. Auch ein Lastwagenfahrer erwähnte ihn in einer Vernehmung vom 20. Oktober 1944. Der Mann hatte sich beim SS-Führungsstab zu verantworten, weil er sich zunächst geweigert hatte, ohne Genehmigung des für ihn zuständigen Fahrbereitschaftsleiters beim Landrat Melk eine 1300 Kilometer lange Fahrt mit seinem Lastwagen nach Westfalen auszuführen. Der SS-Führungsstab zitierte den Mann zu sich. Ernst nahm ihn mit den Worten in Empfang: „Sie wissen, was Sie vor Ihrer Fahrt nach Westfalen getan haben.“ Anschließend wurde er eingesperrt.
Ich schiebe mein Rad über eine Wiese, vorbei an einer Reihe von Einfamilienhäusern. Kinder planschen in einem Pool. Dort lehne ich mein Rad an einen Zaun. Aus dem Haus dahinter kommt ein junger Mann. Michael trägt eine kurze Jeans, ein T-Shirt und eine Brille. Als ich ihm erzähle, warum ich hierhergekommen bin, horcht er auf und erzählt mir, dass sein Großvater während des Kriegs als Polier in den Stollen „geschafft“ hat. Er war also einer der Fachleute, die von der Firma Quarz und ihren Subunternehmern beschäftigt wurden. Gemessen an den bescheidenen Möglichkeiten, die der SS für das Projekt „Quarz“ zur Verfügung standen, traten Ernst und seine Kameraden recht großspurig auf. Zwar wurde das Vorhaben mit Geld der Nazis finanziert und der Stab Kammler mit der Leitung betraut. De facto aber lagen fast alle Entscheidungen in den Händen des Konzerns, der hinter der Quarz GmbH stand: Steyr-Daimler-Puch, damals der größte Rüstungskonzern Österreichs. Sie dirigierten die Hunderte von Facharbeitern, zu denen auch Michaels Großvater gehörte. Und sie sorgten gemeinsam mit der SS für die mörderischen Arbeitsbedingungen der KZ-Häftlinge in den Stollen, bei denen Tausende den Tod fanden.
Rohstoffe rein, Rüstungsgüter raus: Unter dem Wachberg sollten sieben Kilometer Stollen und 65.000 Quadratmeter Arbeitsfläche entstehen, mit Platz für 6500 Arbeiter und 2300 Werkzeugmaschinen.
Planung, Bauleitung und Bauausführung der Quarz GmbH konnten Ernst und die anderen Mitglieder des SS-Führungsstabes nur abnicken. Schon bei der Kontrolle des Baufortschritts und der Abrechnung von Mängeln stießen die nach außen so entschlossen auftretenden Männer an ihre Grenzen. Zumal sie auch noch dafür zu sorgen hatten, dass neue Häftlinge nachgeführt wurden, wenn die arbeitsfähigen verschlissen waren.
Sechs Hauptstollen sollten das Schachbrett erschließen. In den Gängen dazwischen war die Produktion von Rüstungsgütern vorgesehen. Vor allem Kugellager, aber auch Flugzeugmotoren und Panzerteile. Letztlich sollten in die Untertageanlage im Wachberg Rohstoffe hinein- und komplette Produkte herauskommen. Stollen A, auf den Michael und ich gerade zulaufen, war der größte. Hier befand sich ein Bahnhof mit zwei Gleisen. Die Waren sollten unterirdisch umgeschlagen werden, ohne dass alliierte Bomber Jagd auf die Transporte machen konnten. Was außen war – Trafostationen, Wasserpumpstationen und Stollenzugänge –, wurde verbunkert oder mit Tarnnetzen abgedeckt.
Wir kommen vor einer steilen Wand aus Quarzstein zum Stehen. Vielleicht 20 Meter ragt sie über unseren Köpfen empor. Hier und da ziehen sich dünne Fäden am Stein hinab, die wie Auswaschungen wirken. Am Sockel, wo die Wand auf die Halde stößt, liegen schwere Steine nebeneinander. Die katzengroßen Löcher zwischen ihnen geben den Blick in die Dunkelheit frei. Offenkundig haben hier mehr oder weniger professionelle Personen versucht, hinab zum Eingang zu gelangen. Der Gedanke, ins Stolleninnere zu steigen, beklemmt mich. Wie mögen sich erst die Häftlinge gefühlt haben, die sich hier täglich schinden mussten?
Die Arbeitsbedingungen waren grausam. Die Häftlinge schufteten im Akkord. Sie gruben die Stollen, kleideten sie mit Beton aus und schleppten tonnenschweres Gerät in den Wachberg. Wo der Vortrieb zu lange dauerte, zwangen die Vorarbeiter die Häftlinge zum Einsatz von Dynamit. Die Explosionen fegten die Holzstützen weg und begruben immer wieder Männer unter sich. Manche arbeiteten stundenlang hüfttief im Wasser, das durch die Stollen drang. Täglich gab es Opfer. Die Lager-SS notierte sie penibel in einem eigenen „Buch über unnatürliche Todesfälle“. Die Firma Quarz und ihre Subunternehmen zahlten für die Häftlinge. Sechs Reichsmark kostete ein Facharbeiter, vier ein Hilfsarbeiter pro Tag. Je mehr sie leisteten, umso höher war der Gewinn. Da der Nachschub unerschöpflich schien, hatten die Firmen keine Nachteile dadurch, die Häftlinge in möglichst kurzer Zeit zu verschleißen. Die Lebensbedingungen im KZ spielten den Firmen in die Hände. Wer geschwächt war oder krank wurde, bei dem lohnte es sich, ihn loszuwerden. Dazu brauchte es noch nicht einmal Rassismus. Raubtierkapitalismus reichte aus.
Die Brutalität und der Masseneinsatz der Häftlinge konnten die immer schwieriger werdende Versorgungslage nicht ausgleichen. Kammlers Stab riss die Fertigstellungstermine. Als das Projekt wenige Wochen vor Kriegsende zum Erliegen kam, waren erst zwei Drittel des Stollens ausgebrochen, ein Drittel war mit Beton ausgekleidet und nur zwölf Prozent der Gesamtfläche waren übergeben worden. Die Vernichtung der Häftlinge an Ort und Stelle wurde vereitelt. Viele sollten das Kriegsende dennoch nicht erleben. Sie starben bei der „Evakuierung“ aus Melk vor der anrückenden Roten Armee nach Westen oder im KZ in Ebensee.
Ich bin dem Ort, an dem Ernst gearbeitet hat, so nahe gekommen, wie es nur möglich war. Welche Rolle spielte er im Stollen? „Ihr Großvater ist sehr wahrscheinlich persönlich mit Häftlingen in Kontakt gekommen“, hat mir Christian Rabl vor der Abfahrt mit auf den Weg gegeben. Dafür spreche schon die Tatsache, dass sie zu Tausenden in den Stollen gearbeitet hätten. Sicher ist, dass der SS-Führungsstab über die Sicherheitsvorkehrungen beim Stollenbau wachte. Ging es zu langsam voran, lag es in der Hand der SS-Bauleiter, sich darüber hinwegzusetzen. Da neben Ernst und seinem Vorgesetzten, einem Wiener Architekten, nur ein weiterer SS-Bauleiter vor Ort war, gehe ich davon aus, dass sie häufig anwesend waren und sich gegenseitig ablösten. „Im Zweifelsfall wurde gegen die Sicherheitsvorkehrungen der Häftlinge entschieden, wenn damit Zeit und Kosten am Bau gespart werden konnten“, schreibt Perz. Es stimmte also. Ernst Hemicker arbeitete in seinem Beruf. Aber er blieb ein Ingenieur des Todes. Den Fortschritt seiner Baustelle pflasterte er mit Menschenleben. Die Verbrechen im Baltikum waren nur eine Episode. Ernst blieb Teil der Vernichtungsmaschinerie.
Dieser Text ist ein Vorabdruck aus Lorenz Hemickers Buch „Mein Großvater, der Täter. Eine Spurensuche“ (Rowohlt, 256 Seiten, 24 Euro). Es erscheint am 15. April.