Kultur

Christoph Türcke denkt nach über den Ursprung der Musik. – Kultur | ABC-Z

Viele Bücher über Musik sind deshalb so unbefriedigend, weil sie es dem Leser einfach machen wollen. Weil jeder verstehen oder mitempfinden soll, was den Autor so begeistert. Aber Musik ist nicht einfach. Sie ist nicht einfach zu verstehen und sie ist nicht einfach da. Sie ist, das zeigt der Philosoph Christoph Türcke in einem der besten Bücher, die über Musik geschrieben wurden, neben der Sprache das komplexe Alleinstellungsmerkmal des Menschen. Sicherlich, auch Tiere geben Laute von sich, sogar Melodien, die sich manchmal kaum von den akustischen Ergebnissen menschengemachter Musik unterscheiden. Aber tierische Klänge sind eben nicht gemacht, nicht bewusst gestaltet, sondern funktionale Reflexe oder reflexhafte Überschusshandlungen: Aktionen, die über den ursprünglichen Nutzen der Paarungsoffensive oder Gebietsmarkierung hinausgehen. Klingt wie Musik, ist aber keine, stellt der Philosoph Christoph Türcke nüchtern fest. Wenn aber Musik, wie er später darstellt, kein Transportmittel für Gefühle ist, sondern ein kulturelles Konstrukt, das dennoch mit Gefühlen verbunden ist, dann wird es schon schwieriger mit der Unterscheidung von Mensch- und Tiermusik.

Denn die Art des Konstruktes, die Struktur, ist offen und nicht objektiv bewertbar. Für Türcke ist ein Bezug zur natürlichen Obertonreihe aber wesentlich, eine Überwindung der Tonalität, wie sie etwa der Komponist Arnold Schönberg propagierte, eigentlich nicht möglich. Schönberg habe das System von Konsonanz und Dissonanz auflösen wollen in eine mystische Konsonanz mit dem Universum. Die allermeisten Menschen hören aber tonal und erfahren Musik über das Spannungsverhältnis von Konsonanz und Dissonanz. Und trotz imposanter Theoriearbeit durch Schönberg selbst und später vor allem durch den Philosophen Theodor W. Adorno hat Schönbergs Zwölftonsystem das abendländische Tonsystem nicht verdrängen können.

Vielleicht hat er aber wenigstens erreicht, was auch Türcke umtreibt: den vermuteten Gefühlsgehalt von Musik zu hinterfragen. Denn auch als leidenschaftlicher Musikhörer muss man doch zugeben, dass Musik ein akustisches Phänomen ist, an das der Mensch seine Gefühle koppelt, wie es ihm passt. Der Glaube, diese Gefühle seien durch die Musik hervorgerufen worden, ist nicht falsch, aber auch nicht richtig. Denn die Musik enthält keine Gefühle. Nicht einmal biografische Abdrücke, wie Türcke feststellt. Nichts davon. Es ist völlig egal, wie gut oder schlecht Beethoven gelaunt war, als er seine Fünfte Symphonie schrieb, ob er mit seiner Taubheit haderte und an Gott und der Welt verzweifelte. Auch dies ist schwierig zu vermitteln, denn der Wunsch, dass Musik eine wenn auch begrifflose sprachähnliche Bedeutung habe, hält sich tapfer und füllt viele Bücher mit konkreten Werkdeutungen.

Am Anfang war der Mensch den unvorhersehbaren Bedrohungen durch Natur und Raubtiere ausgeliefert

Schwierig heißt für Türcke aber nicht unmöglich. Er zeichnet zunächst die lange Entwicklung vom Schreckensschrei beim archaischen Menschenopfer vor vielen Tausend Jahren bis zu Stockhausens „Gesang der Jünglinge“, bereichert seinen historischen Abriss mit philosophischen Standpunkten von Platon bis zu Adornos Jazzkritik. Der Vorteil dieser sehr umfangreichen und doch immer spannend geschriebenen Darstellung ist zweifellos die philosophische Versiertheit des Autors und sein größtenteils erfolgreiches Bemühen, sich auch in Details der Musikgeschichte einzuarbeiten. Es scheint ein Vorteil zu sein, diese einmal von außen scharf denkend zu betrachten und ihr nicht mit der Selbstsicherheit des ausübenden Musikers oder Musikwissenschaftlers zu begegnen. Christoph Türcke war zwar einst ein begabter Violinist, spricht hier aber nicht aus der Sicht des Praktikers, der wie auch fast alle Theoretiker davon ausgeht, dass Musik in irgendeiner Form immer da war.

Anders als die oft unergiebigen Forschungsergebnisse fachfremder Wissenschaftler – viele haben einen Hang zur Musik und untersuchen meistens die Wirkungen von Mozart und Bach auf irgendetwas – beschränkt sich Türcke auf seine ihm vertrauten Bereiche der Philosophie, Theologie und Psychologie. Letztere hilft ihm, den Ursprung der Musik aus dem Ur-Ritus abzuleiten, dem kultivierten Menschenopfer. Am Anfang war die Angst, der Mensch war den unvorhersehbaren Bedrohungen durch Naturereignisse und Raubtiere schutzlos ausgeliefert. Ziemlich lange. Die Entwicklung seines Gehirns erlaubte ihm irgendwann eine Gegenreaktion, bei der es um Reizabfuhr geht, um Notwehrimpulse und Nachbereitungsimpulse. Angst soll nun vor dem Schrecken schützen und wird bewusst getriggert durch Wiederholung des Schreckensszenarios.

Musik, so kann man es kurzfassen, ist zugleich weniger und mehr als Sprache

Aus dem Wiederholungszwang entsteht der Ritus, bei dem das schlimmste Erlebnis in Szene gesetzt wird: die Tötung eines Mitmenschen. Entscheidend dabei, sagt Türcke, ist „nicht, Naturgestalten nachzuahmen, sondern Gestaltlosem eine Gestalt zu geben“. Das Ganze geschieht in einem Schutzraum, der „skene“, und die treibenden psychischen Kräfte sind Verschiebung und Verdichtung, die Sigmund Freud die „Werkmeister des Traums“ nennt. Diese Kräfte bilden den „psychischen Primärvorgang“, dessen Initialzündung der Wiederholungszwang ist, wie Türcke beschreibt.

Wesentlich im Hinblick auf die Entwicklung des Ritus und am Ende der Musik ist die Umkehr der Triebrichtung. Der rituelle Ablauf geht – sehr verkürzt dargestellt – so, und das ist durch archäologische Forschung begründet: Die Gemeinschaft wirft das Los, wer geopfert werden soll, es folgt die Zurichtung des Opfers durch Steinigung. Hierbei entsteht Mitleid und Solidarität. Letztere äußert sich in der Selbstverletzung der Beteiligten durch sogenannte Kainszeichen – sie sind die Vorstufe der Schrift. Sie gehören ebenso zur Schreckensbewältigung wie Bestattungsrituale, die begleitet sind von Scham, Trauer, Mitleid und Rührung. In ihnen entwickelt sich allmählich, über Hunderte Jahre, der traumatische Wiederholungszwang vom Abfuhrreflex unerträglicher Reizüberschüsse, also des ursprünglichen Schreckens, „zum Ferment spezifisch menschlicher Gefühle“.

Gleichzeitig entwickelt sich ein virtueller Raum „entstofflichter Schreckensbilder“, also albtraumartiger Visionen, die irgendwann das reale Menschenopfer durch abstraktere Rituale ersetzen. Doch Musik und gleichzeitig Sprache entwickeln sich noch im konkreten Opferritual, nämlich aus dem Schrei der Menge im Moment der Tötung. Der Schrei, zunächst Reflex, entwickelt demonstrativen Charakter, er deutet auf ein Geschehen, wird schließlich zum Begriff, zur Benennung, zum Namen. Hier sind Sprache und Musik noch eins, die Geste des Nennens ist gleichwertig dem noch unbekannten Inhalt des Benennens. Es folgen fast spannende hundert Seiten, die in die jüdische Sprachphilosophie führen, zu Adorno und dessen Vorbild und Ideengeber Walter Benjamin und dessen missglückte Habilitationsschrift „Der Ursprung des deutschen Trauerspiels“.

Benjamin sagt ganz kantianisch, unsere Begriffsapparatur deute sich die Welt nach unserer Vorstellung, erfasse aber nicht die Wahrheit. Allerdings listet er dann allerhand Merkmale von Wahrheit auf, die in einer „weitgehend beweislosen Wahrheitstheorie“ mündet. Das kostete ihm die akademische Karriere. Adorno führt Benjamins Gedanken weiter und spricht in Bezug auf Musik als entmythologisiertem Gebet, „befreit von der Magie des Einwirkens“. Hier widerspricht Türcke und landet schließlich beim bekannten Beispiel in Platons „Symposion“, bei dem eigentlich der Sexualtrieb des Menschen erklärt werden soll. Der Urmensch war demnach ein Doppelmensch, wahlweise Mann-Mann, Mann-Frau oder Frau-Frau. Der eifersüchtige Zeus durchtrennte diese vollkommenen Menschen, und die Wundmale schmerzen bis heute. Deshalb sucht der Mensch stetig sein Gegenstück. Und genau so kann man sich das Verhältnis von Sprache und Musik vorstellen und das Ohr dafür schärfen, wie diese Grundkonstellation durch die Jahrhunderte, von der Gregorianik über das Melodram des 19. Jahrhunderts bis zu Rap und Hip-Hop eine kulturelle Konstante ist. Eins verweist aufs andere, und auch wenn die Sprache schließlich die Oberhand gewonnen hat in der Bedeutung für den Menschen, so bleibt der Wert des anderen Teils, der Musik, doch nicht unerheblich. Musik, so kann man es kurzfassen, ist zugleich weniger und mehr als Sprache.

Zuletzt zeigen sich dann doch etwas weitergehende akustische Wunder als der Gesangskarneval der Tiere

Sie ist nicht, wie Adorno sagt, ein entmythologisiertes, sondern, so Türcke, ein präverbales Gebet, das auch weltlich weiterwirkt, etwa bei Stefan George in seinem Entrückungsgedicht „Ich löse mich in Tönen“. Türcke wühlt da immer weiter, es geht um die jüdische Mystik der Grasengel und um Sadomasochismus und so vieles, das zur Erklärung beiträgt und von den reinen Phänomenologen und Zeichentheoretikern nur unzureichend beschrieben werden kann: Was Musik ist.

Wie sehr man irren kann, wenn man sich auf rein musikwissenschaftlichem Boden bewegt oder der gängigen Vorstellung von Musiktheorie, zeigt Türcke wiederum am Beispiel des viel rezipierten Musikdeuters Adorno. Der konnte zum Beispiel im Jazz nichts wirklich Neues entdecken. Stattdessen attackiert er die Behauptung des Revolutionären im Jazz, bescheinigte diesem „Gestus der Rebellion die Bereitschaft zu blindem Parieren“, „wie es die analytische Psychologie vom sadomasochistischen Typus lehrt, der gegen die Vaterfigur aufmuckt und dennoch insgeheim sie bewundert, ihr es gleichtun möchte“.

Adorno schrieb dies 1935, als der Jazz aus heutiger Sicht noch sehr aufgeräumt klang. Türcke nimmt Adornos Kritik dennoch ernst, zeigt dessen Fehlschluss auf, redet aber nicht verknöcherten Konservativisten das Wort. Es sei keineswegs ein simpler Kategorienfehler, schreibt Türcke, den Jazz von der kompositorischen Höhe aus wahrzunehmen, die die klassische Musik im Zeitalter der zerbrechenden Tonalität erreicht hatte. Von Debussy aus betrachtet, den Adorno unter anderem anführt, sei der Jazz sicherlich dilettantisch, aber dieser Dilettantismus habe sein eigenes Recht, „sobald es ihm gelingt, was so mancher hochkarätigen Kompositionsanstrengung versagt bleibt: auf spontane, befreiende Weise ein Glücksversprechen mit enormer Echowirkung zu artikulieren“.

Dies ist sicherlich die entscheidende Sichtweise, die wohl für alle Musik gilt, von der Gregorianik bis zum Bebop, von Palestrina bis zur Popmusik. Zu jeder Zeit gibt es mehr oder weniger komplex gestaltete Musik, aber das Entscheidende ist nicht der vordergründig intellektuelle Aufwand, sondern das wirkende Ergebnis beim Hörer. Womit wir vielleicht doch wieder bei den Tieren wären, bei der drögen Drossel und dem herrlichen Lerchengesang. Türcke würde das nicht so sehen, er forciert einen kulturellen Entwicklungsbegriff, bei dem es um Gestaltung geht, der nicht Detailphänomene ins Zentrum rückt, sondern den Blick fürs Ganze bewahrt. Und da zeigen sich dann doch etwas weitergehende akustische Wunder als der Gesangskarneval der Tiere.

Christoph Türcke, Philosophie der Musik. Verlag C.H.Beck, München 2025. 510 Seiten, 38 Euro.

Back to top button