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Die schaffen das vielleicht sogar | ABC-Z

Die Tinte der Unterschriften unter dem Koalitionsvertrag war noch nicht trocken, da preschten schon Vertreter der Koalitionsparteien vor, um ab-, auf- und umzuwiegeln. Jens Spahn (CDU) hielt den angestrebten Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 lautstark für unwahrscheinlich, weil das Wirtschaftswachstum bis dahin kaum groß genug dafür sei. Saskia Esken (SPD) regte eine höhere Besteuerung von Spitzenverdienern an, um die Entlastungen weiter unten „aufkommensneutral“ zu halten; das wiederum trieb CDU-Mitglieder auf die Palme, man habe schließlich vereinbart, dass es keine Steuererhöhungen geben werde.

SPD-Generalsekretär Matthias Miersch bezeichnete in einem Interview den Koalitionsvertrag als reine „Absichtserklärung“ ohne Gesetzeskraft, was sicher richtig ist, aber dessen Bedeutung dennoch arg herabdimmt. Vielleicht ärgert sich die SPD nur darüber, dass sie nach ihrem Verhandlungserfolg (sieben Ministerien herausgeholt; auf Augenhöhe mit der CDU also) dennoch im nun eigenen Arbeitsministerium das von ihr eingeführte Bürgergeld selbst wieder abwickeln soll. Während CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann dem Vernehmen nach nicht glücklich darüber sein soll, dass er nun zwar als Wirtschaftsminister gehandelt wird, aber seine Pläne eines Superministeriums für Wirtschaft und Arbeit pulverisiert wurden. Kurz: Wer solche Mitkoalitionäre hat, wer braucht da noch die Opposition? Oder die harsche – und berechtigte – Kritik von der Klimabewegung oder von Migrantenverbänden? Und erinnert das Hickhack an Tag 1 (der Vorlaufzeit) nicht erschreckend an die Stimmung in der schon halb abgeschalteten Ampelregierung?

Verdammt zum Erfolg

Mit Fug und Recht fragte Maybrit Illner in ihrer Sendung also danach, ob diese Vereinbarung der Beginn eines Aufbruchs oder eines „Weiter so“ sei. Den Untertitel der eigenen Sendung – „Mit Merz aus der Krise?“ – missachtete die Moderatorin dankenswerterweise weitgehend, weil das den Blick allzu sehr auf die Kanzlertauglichkeit des ersten Politikers ohne Regierungserfahrung auf diesem Posten verengt hätte. Zwar sind die Zustimmungswerte zu Friedrich Merz gerade denkbar schlecht: 59 Prozent finden ihn als Bundeskanzler „nicht gut“, nur 36 Prozent „gut“, ergab die kurz vor der Sendung veröffentlichte Blitzumfrage des „ZDF-Politbarometers“. Doch darum geht es in diesem Moment gar nicht, dafür ist die Lage zu ernst. Auch zum Koalitionsvertrag selbst wurden die Bürger befragt, und auch hier zeigten sie sich nicht überzeugt. Zwei Drittel gaben an, dass mit dieser Regierung kein Politikwechsel zu erwarten sei. Das spiegelt die zurzeit von vielen Seiten am Koalitionsvertrag geübte Kritik. Mal gilt er als zu wirtschaftsfern, dann als zu wirtschaftsliberal.

Vielleicht aber hat diese Ausgabe von „Maybrit Illner“ die Skepsis schon ein klein wenig abgebaut, denn die Auseinandersetzung mit dem nun vorliegenden Koalitionskompromiss war über weite Strecken so konstruktiv und ehrlich, wie man das kaum mehr gewohnt ist. Dass zwei Architekten des Vertrags, CDU-Verhandler Carsten Linnemann und SPD-Verhandlerin Manuela Schwesig, die nun vorliegende Einigung loben würden, überraschte nicht. Wie einmütig sie das taten, wie ostentativ sie sich parteipolitisch nicht auseinanderdividieren lassen wollten, war jedoch ein erstes ermutigendes Zeichen. „Wir sind verdammt für den Erfolg“, formulierte es Linnemann, und Schwesig ergänzte, dass „die Leute“ sich abwendeten, wenn es nun doch wieder zu fruchtlosem Streit komme. Es stecke ganz viel in diesem Vertrag, versicherte die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern (was sie im Übrigen auch bleiben wolle: so viel zu Gerüchten, auch sie stehe als potentielle Bundesfinanzministerin zu Verfügung): „Wenn wir es zügig schaffen, schon mal die Hälfte davon umzusetzen, dann wird es dem Land besser gehen.“

Ein schwergewichtiges Lob

Der wichtigste und wirkungsvollste Satz über die Koalitionsvereinbarung aber stammte von Stefan Wolf, der als Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall einer derjenigen ist, auf die es bei der angestrebten Wirtschaftswende besonders ankommt. Der Satz, der zum Tenor der gesamten Sendung wurde, lautete: „Es kam besser, als wir erwartet haben in der Wirtschaft.“ Dass Wolf sogleich nachschob, dass nun auch geliefert werden müsse, was versprochen worden sei hinsichtlich von Bürokratieabbau, Energiepreissenkung, Abschreibungen und Steuererleichterungen für Unternehmen, konnten Schwesig und Linnemann als Selbstverständlichkeit hinnehmen. Auch mit dem Anmahnen von Tempo, „weil wir im dritten Jahr einer Rezession sind“, lief Wolf bei ihnen offene Türen ein.

Erwartbare Kritik an der Koalitionsvereinbarung übte die ehemalige Linken-Vorsitzende Katja Kipping, inzwischen Geschäftsführerin des Paritätischen Gesamtverbandes. Aber auch diese Kritik war erstaunlich verhalten. Natürlich wies Kipping darauf hin, dass die Pläne zu wenig Rücksicht auf arme und armutsgefährdete Menschen nähmen. Dafür bleibe der Vertrag bei der Verfolgung von Steuerbetrug zu vage. Letztlich aber wurde nicht wirklich nachvollziehbar, was sie – jenseits eines Generalverdachts und der Änderung beim Bürgergeld – an der Vereinbarung genau störte. Zumal Kipping dann auch noch explizit lobte, dass die Jobcenter für Arbeitsvermittlungsmaßnahmen nun mehr Geld bekommen sollen, nachdem die Ampelregierung die nachhaltigen Arbeitsvermittlungsmaßnahmen zurückgefahren habe.

Klare Klientelpolitik

Auch der Journalist Michael Bröcker („Table Media“) sah zumindest „ein bisschen Aufbruch“, etwa bei der Modernisierung des Staates und der Digitalisierung. Schade sei nur, dass viele strittige Punkte in Kommissionen und Arbeitskreise verlagert würden. Von den sehr hilfreichen Abschreibungen auf Investitionen hätten zudem vor allem die großen Unternehmen einen Vorteil. Bei den kleinen und mittleren zähle die Gesamtbelastung, und da – Stichwort steigende Sozialabgaben – sei man zu zaghaft vorgegangen. Ebenso bei den Einsparungen am aufgeblähten Staatsapparat selbst: Die angedachten Einsparungen von 8 Prozent über vier Jahre seien allenfalls homöopathisch zu nennen. Linnemann hingegen hielt die „knapp 10 Prozent“ Einsparungen für beachtlich: „Jetzt wird mal was gemacht und es wird nicht gelobt.“

Bei so wenig Kritik innerhalb der Runde musste der Ökonom Jens Südekum mit seiner dezidierten Kritik an den drei für ihn verzichtbaren Posten Mütterrente, Agrardieselsubventionierung und Absenkung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie eingeblendet werden. Ohne diese Ausgaben wäre nach seiner Rechnung Spielraum gewesen für eine jetzt unter Finanzierungsvorbehalt stehende Einkommenssteuerentlastung für alle. Linnemann überließ es Manuela Schwesig, alle drei Ausgaben zu verteidigen, wenn auch eher halbherzig: „Wir sind ein Tourismusland, wir sehen, dass es wichtig für die Gastronomen ist“, sagte sie etwa zur Gastro-Entlastung, die auch Wolf für „klare Klientelpolitik“ hielt.

Vom Scharfmacher zum Beschwörer

Linnemann selbst wollte darüber gar nicht reden, sondern verlegte sich darauf, gleich hier sprühende Aufbruchsenergie zu verbreiten: „Jetzt lasst uns doch mal einmal einen Punkt durchziehen mit der Aktivrente. Das wird ein dickes Ding.“ Gemeint ist der bis zu 2000 Euro steuerfreie Zuverdienst für Rentner. „Das steht jetzt drin. Ich hab‘ immer gesagt: einfach mal machen.“ Noch wichtiger, um die Wirtschaft in Gang zu bringen, seien „die Super-Abschreibungen“ von dreimal 30 Prozent auf Investitionen. Tempo sei natürlich gefragt, bis zur Sommerpause müssten die wichtigsten Pflöcke bereits eingeschlagen sein, damit bald wieder eine andere Grundstimmung im Land aufkomme.

Fiel der Generalsekretär Linnemann noch vor wenigen Wochen mit scharfen Angriffen in alle Richtungen auf – berüchtigt sein Satz vom Dezember: „In Deutschland gibt es gar keine Leistungsbereitschaft mehr“ –, so gibt sich der designierte Wirtschaftsminister (wenn es denn so kommt, wie alle vermuten) vor allem als Beschwörer der von der Union, der SPD, der Wirtschaft und den „Menschen, die so hart arbeiten“, gemeinsam zu vollziehenden Produktivitätswende.

Eine neue Agenda 2010?

Interessant wurde es, als Manuela Schwesig auf den neusten Vorstoß von Saskia Esken zur Reichensteuer angesprochen wurde. Darüber habe man lange geredet mit der CDU, ließ sie durchblicken. Hier aber blieb die CDU hart. Deshalb stehe nun die Beibehaltung des Solidaritätszuschlags im Vertrag, den nur Gutverdiener und Unternehmer zahlen: ein klassischer Kompromiss. Und daran sollten sich alle nun halten. Nachfrage: Auch Saskia Esken? Alle.

Stefan Wolf lag derweil auf der Lauer, und als die Gelegenheit günstig war, biss er zu: Die SPD wisse doch, wie man aus Krisen komme. Es brauche nun einfach eine neue Agenda 2010, die zu einem großen Aufschwung geführt habe, forderte er mit Blick auf die Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarkts unter Bundeskanzler Gerhard Schröder ab 2003. Carsten Linnemann, minimal rückfällig, nutzte die Gelegenheit, noch einmal die Abschaffung des Bürgergelds zugunsten einer neuen Grundsicherung zu anzupreisen: „Wer in Zukunft diese Grundsicherung erhalten möchte, der muss einen Grund haben. Wer keinen Grund hat, also wer arbeiten kann, der muss in Zukunft auch arbeiten gehen.“

Damit kam endlich ein wenig Schwung in die Runde, denn natürlich sprang Katja Kipping in die Bresche und hob hervor, dass mit der Agenda 2010 auch ein hohes Maß an sozialer Verunsicherung verbunden gewesen sei. So etwas bereite den Boden für die Feinde der Demokratie. Das Einsparpotenzial bei Linnemanns Grundsicherung sei hingegen überschaubar. Und auch Manuela Schwesig wollte sich keine Schröder-Nachfolge nahelegen lassen: Die Rahmenbedingungen heute seien doch ganz andere. Ohne billige Energie aus Russland („und wir sollten auch nicht mehr da hin zurück“) und ohne billige Sicherheit durch die USA funktionierten die Modelle der vergangenen Jahrzehnte einfach nicht mehr, so ehrlich müsse man sein. Es gehe vielmehr darum, massiv in die Wirtschaft zu investieren und Planungsbeschleunigungen zu ermöglichen, und eben das sei ja die Kernidee des Koalitionsvertrags. Wolf gab sich besänftigt und nickte zustimmend.

Eine Lektion in Zuversicht

Eine Liebesheirat wird diese Regierung, so sie denn zustande kommt – noch steht das SPD-Mitgliedervotum ja aus –, sicherlich nicht, das ließ sich auch bei Maybrit Illner zwischen den Zeilen heraushören. Aber zu einer Vernunftehe könnte es tatsächlich reichen. Vielleicht kommt das vielen der Beteiligten nach den schweren Diskreditierungen im Wahlkampf selbst so abstrus vor, dass schon deshalb an Tag 1 nach Abschluss des Ehevertrags das gegenseitige Torpedieren wieder startete.

Wie es hingegen auch gehen könnte, vermutlich sogar gehen muss, zeigten an diesem Abend Manuela Schwesig und Carsten Linnemann, indem sie in großer Offenheit und Höflichkeit die Stärken und Chancen des ausgehandelten Koalitionsvertrags herausstellten, ohne manche Schwächen zu verhehlen. Und wieder war es Stefan Wolf, der mit Blick auf die Ängste der Bürger vor Wohlstands- und Arbeitsplatzverlusten die vielleicht wichtigste Aufgabe für die neuen Koalitionäre in – hintenraus bekannt anmutende – Worte fasste: „Das ist, glaube ich, jetzt ihre Aufgabe, den Menschen in diesem Land wieder Zuversicht zu geben. Dass sie sagen, die schaffen das.“ Zuversicht, hier keimte sie leise auf. Die Politik- und Wirtschaftswende, das ist zu guten Teilen Psychologie. Und Psychologie ist in Deutschland fast so schwierig wie Humor.

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