Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld war NSDAP-Mitglied | ABC-Z

Siegfried Unseld ist eine Legende: Als Verleger des Suhrkamp Verlags war er seit 1959 bis zu seinem Tod 2002 die bestimmende Figur der deutschen Gegenwartsliteratur – wichtiger als alle Schriftsteller, obwohl sein Haus die einflussreichsten von ihnen versammelte: Bertolt Brecht, Hermann Hesse, Theodor W. Adorno, Hans Magnus Enzensberger, Peter Weiss, Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Uwe Johnson oder Jürgen Habermas. Sie alle hatten eines gemein: Sie standen durch ihre Werke für ein politisch geläutertes antifaschistisches Deutschland, auch wenn sie andere Staatsangehörigkeiten hatten. „Suhrkamp Culture“, um den berühmten Begriff von George Steiner aufzunehmen, bedeutete Aufklärung, Humanismus, Absage an Totalitarismus. Genau das Gegenteil des Nationalsozialismus.
Nun hat, wie „Die Zeit“ in ihrer morgigen Print-Ausgabe und heute schon im Netz berichtet, der Historiker Thomas Gruber im Rahmen seiner Forschungen im Bundesarchiv in der dort aufbewahrten Mitgliederkartei der NSDAP die Karte von Siegfried Unseld gefunden, der als Nummer 9.134.036 zum 1. September 1942, kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag in die Partei aufgenommen wurde – wohl auf eigenen Antrag vom 8. Juni 1942, kurz bevor der damals in Ulm vor dem Not-Abitur stehende Oberschüler als Soldat an die Front kam. Wie die hohe Mitgliedsnummer einmal mehr zeigt, war er damit zahlenmäßig in guter Gesellschaft. Und über seine Motivation weiß man noch nichts. Aber das ist genau das Problem.
Der Zauber des Namens „Suhrkamp“
Hätten all die genannten Autoren einem Verlag die Treue gehalten, von dem bekannt geworden wäre, dass sein Chef NSDAP-Mitglied war? Unseld selbst hat 1973 an seinen (damals maoistisch überzeugten) Autor Martin Walser geschrieben: „Mehr denn je gilt, daß die Haltung des Intellektuellen, des Schreibenden parteiisch nicht parteilich sein sollte.“ Es sind keine Äußerungen von ihm über seine NSDAP-Mitgliedschaft bekannt; wir kennen das vom Fall Günter Grass und dessen Mitglied in der Waffen-SS, die erst 2006, sieben Jahre nach der Zuerkennung des Literaturnobelpreises bekannt wurde. Es gab gar keine unmittelbaren Verbrechen zu vermelden, aber eben die Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation, über die Grass Stillschweigen bewahrt hatte. Für Unseld gilt das Gleiche. Aber Grass galt als moralische Autorität und trat als eine solche auf. Das galt für Unseld nicht.
„Die Zeit“ hält ihm nun in ihrer Vorabmeldung der Entdeckung „öffentliches Schweigen“ vor – ein alberner Begriff für jemanden, der offensichtlich nie nach einer etwaigen NSDAP-Mitgliedschaft gefragt worden ist. „Öffentliches Schweigen“ suggeriert eine demonstrative Handlung, als wäre Unseld mit Erkundigungen konfrontiert worden und hätte die Aussage verweigert. Bezeichnend ist vielmehr, dass nie jemand bei diesem im „Dritten Reich“ jungen Mann auf die Idee gekommen ist, dass der sich intensiver auf die damals herrschende Ideologie eingelassen haben könnte als nur durch Dienst in der Wehrmacht. Aber der Zauber des Namens „Suhrkamp“ und die Literatur-Ideale, für die das Haus und sein Verleger standen, haben das wohl undenkbar gemacht.
Man hätte meinen können, dass im Vorjahr, als mit großem Aufwand der hundertste Geburtstag dieses Ausnahmeverlegers gefeiert wurde, als Briefwechsel, Tagebuchbände und biographische Studien erschienen, jemand sich auf die Spur des Siegfried Unseld vor seiner Zeit im Buchgeschäft machte. Es unterblieb, und Verlag und Deuter stehen jetzt einigermaßen blamiert da. Andererseits ist Unselds Rolle nicht nur im literarischen Leben der Bundesrepublik, sondern in deren gesamtgesellschaftlichem Gefüge, von der Studentenbewegung bis zur Debatte um den Nato-Doppelrüstungsbeschluss, von der „Frankfurter Schule“ bis zum Dekonstruktivismus, und seine Reputation über Deutschland hinaus ein Beleg für das Bemühen, ein Denken und damit einen Staat zu schaffen, der mit dem brach, was die deutsche Kultur zuvor verbrochen hatte.
Die Suhrkamp-Kultur wie Siegfried Unseld als Mensch sind unverdächtig eines fortbestehenden nationalsozialistischen Untergrunds. Es gab, wie es nun scheint, einen überwundenen nationalsozialistischen Hintergrund, und er wird auszuleuchten sein. Aber das Faktum der Verstrickung in NS-System ist typisch für die deutsche Gesellschaft und das, was sie daraus nach 1945 aus Scham entwickelt hat: den intellektuellen Versuch von Wiedergutmachung. Daran war Suhrkamp entscheidend beteiligt.