Kultur

“Abenteuer der Moderne”: Sprechen ein Nazi und ein Emigrant | ABC-Z

Dieser Oberleutnant verteidigte Institutionen bis zum Äußersten, auch wenn sie längst zusammenbrachen. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs hatten ein paar deutsche Soldaten in Schlesien einen russischen Angriff überstanden, jetzt schlug ein Feldwebel vor, sich zu verdrücken, der Krieg sei vorbei. Da zog Oberleutnant Arnold Gehlen den Revolver: “Wenn Sie den ersten Schritt tun, erschieße ich Sie!” Niemand desertierte daraufhin. Als der Ex-Oberleutnant, nunmehr Professor an der RWTH in Aachen und soziologischer Erforscher von Institutionen, in den 1960er-Jahren in einer Münsteraner Kneipe gefragt wurde, ob er damals tatsächlich geschossen hätte, war seine Antwort eindeutig: “Aber selbstverständlich!”

Drei Jahre nach der schlesischen Szene beschrieb Max Horkheimer, der Gründer des legendären Instituts für Sozialforschung, seiner Frau in Kalifornien seinen Nachkriegsbesuch an der Frankfurter Universität, die ihn 1933 ins Exil vertrieben hatte: “Die Fakultät, an deren Sitzung ich gestern teilgenommen habe, ist überfreundlich und erregt Brechreiz. Die Brüder sitzen noch genauso da und machen ihre heimtückischen Schelmenstreiche wie vor dem Dritten Reich (und unter ihm), als ob nichts geschehen wäre.”

Zwei Szenen innerhalb von nur drei Jahren, die die westdeutsche Konstellation nach 1945 erhellen. Sie rufen noch einmal die Frage auf, wie es über solche existenziellen moralischen Abgründe hinweg damals überhaupt weitergehen konnte, mit Opfern, Tätern, Emigranten, Mitläufern, Nazis und Antifaschisten. Dieses Neben- und Miteinander wird ja mit wachsendem zeitlichen Abstand und zunehmender moralischer Selbstgewissheit immer rätselhafter und wirkt wie ein postkatastrophischer Spuk.

Von diesem Weiterleben und Weiterdenken erzählt der Kultursoziologe Thomas Wagner in seinem Buch Abenteuer der Moderne. Die großen Jahre der Soziologie 1949–1969. Man lasse sich vom Titel nicht irreführen, es geht ausschließlich um Deutschland und um zwei Figuren, deren Leben und Theorien: um Arnold Gehlen, geboren 1904, soziologischer Klassiker und Stichwortlieferant der Neuen Rechten, sowie um den Freund und Mitarbeiter Horkheimers, Theodor W. Adorno, geboren 1903, Emigrant, der 1949 ebenfalls aus Kalifornien nach Frankfurt zurückkehrte. Beide waren sie Anfang der 1930er-Jahre aufstrebende Philosophiedozenten.

Gehlen hatte im Nationalsozialismus Karriere gemacht und war 1933 NSDAP-Mitglied geworden; 1940 erschien sein frühes Hauptwerk Der Mensch – ein Elite-Nazi aus Überzeugung. Derart belastet, bleibt Gehlen nach 1945 erst am Rande, aber im Fach Soziologie einflussreich, seine Ideen vom Menschen als “Mängelwesen”, das der Entlastung durch Institutionen bedürfe, machen Karriere. Wagner beschreibt die damaligen Fraktionen der deutschen Soziologie: So nannte der Emigrant Helmut Plessner Gehlen einen “Lump”, 1958 verhindern Adorno und Horkheimer Gehlens Berufung nach Heidelberg.

Bald kommt es jedoch zu einer öffentlichen Annäherung Gehlens und Adornos. Ausgerechnet Gehlen hatte sich in seinem Buch Zeit-Bilder ästhetisch-kultursoziologisch fasziniert der modernen Malerei gewidmet – Picassos Galerist Daniel-Henry Kahnweiler inspirierte beide Denker. Unweigerlich muss man an die NS-verstrickten Documenta-Macher der 1950er-Jahre denken. Gehlen wird 1970 in Düsseldorf kontrovers mit Joseph Beuys diskutieren, von Ex-Leutnant zu Ex-Kampfpilot, man kann es sich auf YouTube ansehen.

Öffentlich werden ab 1963 auch der linke Adorno und der rechte Gehlen häufig miteinander diskutieren, bestens bezahlt auf Bühnen und im Rundfunk. Die Adorno-Gehlen-Debatten sind bis heute Sternstunden der philosophisch-weltanschaulichen Kontroversen des Landes. Der Kunstfreund Adorno war von Gehlens Kunst-Buch fasziniert, prompt versuchte man sich in kulturkritischem Disput über die modernen Gesellschaften, immer die Unvereinbarkeit beider Haltungen betonend. Gegenwartsskeptisch waren zwar beide – Adorno blieb jedoch dem Konzept einer Humanität treu und sah die Zwangsjacke jeder Institution, wohingegen Gehlen deren Entlastungsvorzug pries. Dass der Ex-Nazi und der Emigrant gemeinsam mit den Ehefrauen Ausflüge in die Pfälzer Weinberge in Gehlens VW-Käfer machten, das hätte junge Linke irritiert.

Wagner hat Quellen und Archive durchforstet, Interviews mit Zeitzeugen geführt. Nicht alles ist neu, aber er komponiert den Stoff klug zu einer packenden Ideengeschichte. Mit herrlichen Funden: so wenn Gehlen über den “Yogi von Freiburg” Martin Heidegger herzieht oder den “völligen Idioten” Ralf Dahrendorf, “ein bloßer Arrangeur von Begrifflichem und ohne echte Sach- und Theoriekenntnis, im Grunde ein Blender”. Oder wenn Elisabeth Noelle-Neumann, die Grande Dame der Demoskopie in Deutschland, berichtet, weshalb sie als junge Forscherin nicht zu Adorno ging: “Wenn man im Gedränge nicht leicht ausweichen konnte, drängte er sich an mich heran, umarmte mich sozusagen, ohne dass das in der Menge auffallen konnte und dass ich mich dagegen hätte wehren können.”

Am originellsten ist Wagners Wiederentdeckung eines schillernden Intellektuellen: Wolfgang Harich, Jahrgang 1923, junger marxistischer Philosoph in Ost-Berlin, allenfalls noch durch seine Haft in Bautzen bekannt, zu der er als dissidentischer Kommunist 1956 nach dem gescheiterten Ungarn-Aufstand verurteilt wurde. Harich ist bei Wagner ein überraschender Sidekick: Begeistert von Gehlens Denken, will Harich diesen Anfang der 1950er-Jahre in die DDR lotsen und schwärmt im Osten von ihm. Er hört seine Radiodiskussionen mit Adorno und gibt stets Gehlen recht; zuletzt erst der Bruch. Bei Wagner bekommt die bundesrepublikanische Ideengeschichte eine deutsch-deutsche Volte.

Parallel zur Beziehung Adorno-Gehlen entfaltet Wagner den Aufschwung der Soziologie zur Leitwissenschaft. Überall wurde der rasante gesellschaftliche Wandel erforscht, Soziologen prägten die öffentlichen Debatten, so wie Gehlen-Schüler Helmut Schelsky mit seinem Wort von der “nivellierten Mittelstandsgesellschaft”. Schließlich befand 1968 Helmut Schmidt: “Wir haben viel zu viel Soziologen und Politologen. Wir brauchen viel mehr Studenten, die sich für anständige Berufen entscheiden, die der Gesellschaft auch nützen.” Das hätte auch Gehlen unterschrieben; man litt zunehmend unter den Aktivisten.

Gehlens in Adornos Todesjahr 1969 publiziertes Buch Moral und Hypermoral provozierte Jürgen Habermas zu einem Verriss über den “politischen Stammtisch eines aus dem Tritt geratenen Rechtsintellektuellen, der den lebensgeschichtlichen Aporien seiner Rolle nicht mehr gewachsen ist”. In seinem Kampf mit der Moderne war Gehlen nie in der Bundesrepublik angekommen und wollte das auch nicht. Das ist das Band, das ihn mit der Neuen Rechten heute verbindet – und von Liberalkonservativen trennt. Über den Vers Odo Marquards auf Gehlens Begriffe “Entlastung” und “Stabilität” amüsierte sich auch Habermas: “Entlaste dich / und frag nicht viel: / sei nicht vernünftig, / sei stabil!”

Adornos und Gehlens Annäherung bleibt von heute aus unvorstellbar. Beider Reiz beruhte auf dem Wissen zweier Diskursherrscher, dass man zu zweit Resonanz zum jeweiligen Vorteil erzeugt. Es gab allerdings andere, die nicht wie Adorno über den Abgrund hinwegschauen konnten. 1963 verweigerte der Philosoph Günter Anders, jüdischer Emigrant und Ex-Mann von Hannah Arendt, Gehlen den Handschlag – im Beisein von Adorno, der mit Gehlen gerade einen TV-Auftritt hatte. Adorno warf Anders per Brief “Stolz vor Königsthronen” vor, wo gar keine seien. Der Überlebende Adorno fühlte sich offenbar – und ja zu Recht – als Sieger. Aber Anders verteidigte sich: Er könne mit jemandem wie Gehlen keine “kulturkritischen Small-Talk-Neuigkeiten austauschen”, auch wenn ihm immer klar gewesen sei, in Deutschland auf Nazis zu treffen. Bei Gehlen aber handele es sich um eine “Haltung, die mir gewiss so schroff entgegengesetzt ist wie Ihnen, der gegenüber jedoch bloße Indignation nicht ausreicht”. Hier ahnte offenbar jemand jenen Revolver von einst, der im erneuten Ernstfall vielleicht abgedrückt würde.

Thomas Wagner: Abenteuer der Moderne. Klett-Cotta, Stuttgart 2025; 336 S., 28,– €, als E-Book 21,99 €

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