Nordische Ski WM: Skispringer zum Abschluss auf die Großschanze – Sport | ABC-Z

Als sich der Regen verzog, der Wind legte und die Luft so klar wirkte wie das Wasser im Fjord, sah man sie in morgendlicher Pracht liegen: zwei schlanke Schanzen, harmonisch in die Hügellandschaft geschwungen und, von unten betrachtet, bedrohlich hoch. Da war sie wieder, die alte Frage, was die Athleten dazu bringt, sich von einem schmalen Bänkchen in knapp 78 Meter Höhe in die Tiefe zu stürzen, noch dazu mit zwei langen Brettern an den Füßen. Die kurze Antwort, vorgetragen von Bundestrainer Stefan Horngacher, lautet: „Weil es eine coole Sache ist.“
Es ist keineswegs eine Provokation, im Rahmen einer Nordischen Weltmeisterschaft die Triebfeder für die Ausübung einer Risikosportart zu ergründen. Denn das Thema, in all seinen Facetten, beschäftigt auch die Athleten. Es ist sogar eine Grundvoraussetzung ihres täglichen Tuns, wie Andreas Wellinger erläutert: „Wir sind Skispringer“, sagt er, „weil wir das Gefühl in der Luft suchen, wenn der Körper leicht wird, wenn die Ski dazukommen, wenn man richtig zum Schweben anfängt. Das ist es, wonach wir streben.“ Die ultimative Herausforderung ist demnach nicht die Überwindung – sie liegt im ständigen, nur selten vollkommenen Versuch, im Schweren die Leichtigkeit zu finden. Für Sekunden fast wie ein Vogel zu fliegen.
:Der Hoffnungsflieger
Die deutschen Skisprungadler kamen mit ziemlich zerrupftem Gefieder zur WM nach Trondheim. Doch hier fühlen sie sich wohl – und bekommen durch die Silbermedaille von Andreas Wellinger ordentlich Auftrieb.
Die erste Schanze in Granasen, im Sportpark vor den Toren Trondheims, wurde schon 1940 errichtet, die Großschanze kam 1960 dazu. Sie wurden mehrmals aus- und umgebaut und nach 2021 für diese WM, wie das gesamte Wintersportzentrum samt Loipennetz, grundlegend modernisiert. Als der zweimalige Olympiasieger Wellinger, 29, in den Tagen vor der WM zu seinem kleinen philosophischen Exkurs über die Faszination seines Sports anhob, befand er sich noch in der Vorbereitung auf die Titelkämpfe, mitten in einer schweren Krise, die die gesamte deutsche Männermannschaft im Dezember heimgesucht hatte – quasi aus dem Nichts. Inzwischen haben sie einigermaßen zurückgefunden in die Spur, in ihr „Gefühl“, aber es war harte Arbeit, die die Geduld der Athleten strapazierte. Und die Plackerei ist längst nicht vorbei.
Karl Geiger arbeitet mit Bildern im Kopf, Andreas Wellinger „Handlungsanweisungen“
Wellinger hat vorige Woche in Trondheim, etwas überraschend angesichts der Selbstzweifel, die WM-Silbermedaille auf der Normalschanze hinter dem Norweger Marius Lindvik gewonnen, der fünfmalige Weltmeister Karl Geiger wurde Vierter. Doch nach dem Wechsel auf den größeren Bakken in dieser Woche standen nur zwei weitere vierte Plätzen jeweils im Mixed- und Männerteamwettbewerb zu Buche, die von den Athleten als Enttäuschung empfunden wurden. Die Umstellung sei weniger reibungslos verlaufen als erhofft, analysierte Bundestrainer Stefan Horngacher: „Es ist nicht so einfach hier. Die Schanze ist sehr eigen.“ An diesem Samstag, dem vorletzten WM-Tag, steht nun der Abschlusswettkampf an. Und so ist vor dem Einzelspringen von der Großschanze festzuhalten: Der Punkt, an dem die DSV-Athleten ihren Problemen entschwebt sind, an dem sie quasi von oben aus der Adlerperspektive auf ihre Krise zurückblicken können, ist womöglich noch nicht erreicht.
Karl Geiger war am Donnerstag der zweite Sprung gründlich missraten, weil er sich im Timing des Absprungs um einen Sekundenbruchteil verkalkulierte, wie er sagte. Er landete zu früh, nach 119 Metern, was den Perfektionisten frustrierte. Vor der WM hatte er erklärt, wie er in der Krise sein gesamtes System „aufgebrochen“ und „die Einzelteile wieder zusammengebaut“ habe, so als handle es sich nicht um eine fließende Bewegung, sondern um eine Mechanik wie eine defekte Antriebswelle. Hat er den Fehler gefunden und das Ganze wieder zusammengefügt, dann macht er sich für jeden Sprung einen detaillierten Plan. Die Idee, dass ein Skispringer oben auf dem Balken säße, einfach in die Spur springe und die Ski laufen lasse, hält er für Folklore – oder eine Absurdität. Er hat ein Bild im Kopf, „und in dieses Bild sind fünf, sechs, oder sieben Punkte eingefügt, die ich umsetzen möchte“ – mehr oder weniger gleichzeitig, weil eine gedankliche Nachzeitigkeit bei der Rasanz der Anfahrt, des Absprungs und des Anstellens der Ski in der Luft nicht möglich ist. Klingt kompliziert? Skispringen ist Kopfsache, sagen die Athleten. Wellinger, dem zuletzt in Granasen Sätze um die 130 Meter gelangen, sagt, er habe weniger Bilder im Kopf, als „Handlungsanweisungen, die ich mir gebe“.
Der Bakken wird sie fordern, so wie er in der Landschaft steht: von unten, für die Laien, bedrohlich. Und von oben mit dem Versprechen an die Könner, sie ins Schweben, ins Fliegen, in einen Moment des Glücks zu tragen.