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Erdoğan rächt sich an Unternehmern | ABC-Z

Istanbul, die Stadt, aus der ich Ihnen diese Briefe schreibe, ist adminis­trativ zwar nicht die Hauptstadt der Türkei, sehr wohl aber wirtschaftlich. Hier haben die größten Unternehmen des Landes ihren Sitz. Auch leben die reichsten Geschäftsleute hier. Sie versuchen Druck auf die Politik auszuüben, damit die Wirtschaftspolitik in ihrem In­teresse gestaltet wird, wie es in anderen Ländern auch geschieht. Ein verbreiteter Spruch bringt das Verhältnis zwischen Privatwirtschaft und Politik auf den Punkt: „Das Istanbuler Kapital steigt erst spät in den Regierungsbus ein, und als Erster wieder aus.“ Denn bis Vertrauen in die Wirtschaftspolitik einer Regierung aufgebaut ist, dauert es eine Weile. Und ist es wieder verloren, geht man rasch auf Distanz, um keine finanziellen Verluste zu erleiden.

Vor gut drei Wochen wurde auf der Hauptversammlung des türkischen Unternehmerverbands TÜSIAD, auch „Club der Reichen“ genannt, Kritik an der Re­gierung geübt. Offenbar ist das Istanbuler Kapital gewillt, an der erstbesten Haltestelle auszusteigen. Seit Langem herrscht in der Geschäftswelt die Sorge, die von der Regierung verursachte Wirtschaftskrise könnte im Verbund mit autokratischen Maßnahmen die Türkei zu einem Land machen, in dem Investitionen unmöglich werden. Als die Regierung Maßnahmen ergriff, die geeignet sind, die Situation noch zu verschärfen, brach der TÜSIAD-Vorstand sein Schweigen. Immerhin sorgen die Mitglieder des Verbands für 50 Prozent der Beschäftigung und des Einkommens im Land und zahlen 80 Prozent der Unternehmenssteuern. Auf der Hauptversammlung formulierten Ömer Aras und Orhan Turan vom Verbandsvorstand Kritikpunkte, die ich als Zitate wieder­gebe. Im jeweiligen Absatz darunter lesen Sie Vorgänge, die zeigen, wie berechtigt die Kritik der TÜSIAD-Vorstände ist.

Bülent Mumayprivat

„Die Wirtschaft erlebt eine Vertrauenskrise, die Inflation wirkt wie eine Steuer, die das Volk verarmen lässt.“

Zuletzt wurde die Teuerung im Verhältnis zum Vormonat mit gut fünf Prozent angegeben. Damit stehen wir an der Spitze der OECD-Länder und weltweit auf Platz sechs. Wir sind in Armut vereint. 2014 beantragten 1,8 Millionen Menschen Sozialhilfe. Zehn Jahre später ist diese Zahl auf beinahe fünf Millionen gestiegen. Eins von drei Kindern geht hungrig zur Schule.

„Die hohe Inflation und sektorielle Ungleichgewichte erhöhen die Einkommensungleichheit.“

In der Türkei klafft die Einkommensschere seit zehn Jahren immer weiter auseinander. Das Einkommen der reichsten 20 Prozent beläuft sich auf das Achtfache des Einkommens der ärmsten 20 Prozent. Über die Hälfte der Bevölkerung muss zum Mindestlohn von umgerechnet rund 580 Euro arbeiten. Wer sich dagegen auflehnt, muss das teuer bezahlen. Als in Gaziantep, einem Zentrum der Textilin­dus­trie, für höhere Löhne gestreikt wurde, stürmte Polizei die Fabriken, eine davon im Besitz eines AKP-Abgeordneten. Der Vorsitzende der Gewerkschaft, die die Streiks organisiert hatte, wurde verhaftet. Über die Stadt wurde ein 15-tägiges Streik- und Aktionsverbot verhängt, das Bei­sammenstehen in Gruppen ist untersagt.

„Die Mechanismen des freien Marktes funktionieren unzureichend. Der öffentlichen Hand mangelt es an Sparpolitik und Konsequenz.“

Freie Marktwirtschaft funktioniert per Konkurrenz. Bei uns hingegen über Parteigängertum. Was Sie verdienen oder an Geld verlieren, ist davon bestimmt, in welchem Verhältnis Sie zur Regierung stehen. Ein Beispiel dafür liefert die Hagia Sophia, die Erdoğan vom Museum zur Moschee umgewandelt hatte. Das Kulturministerium beauftragte eine Firma mit dem Einziehen der Eintrittsgelder der nichtmuslimischen Besucher. Reiner Zufall natürlich, dass die Firma unmittelbar, bevor sie den Zuschlag der Ausschreibung für die Hagia Sophia bekam, an einen Verwandten des Kulturministers verkauft worden war. Dieser knöpft den Besuchern 25 Euro Eintritt ab, an den Staat zahlt er nichts. Pro Jahr besichtigen durchschnittlich zwei Millionen Menschen die Hagia Sophia. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, in wessen Tasche die Einnahmen fließen. Apropos Sparen bei der öffentlichen Hand: Als der TÜSIAD-Vorstand seine Kritik formulierte, war Erdo­ğan mit drei Privatjets auf einer viertä­gigen Asienreise. Die Boeing 747 beför­derte Erdoğan und seine Familie, der Air­bus 330 die offizielle Delegation und die militärische Transportmaschine Erdoğans diverse Dienstwagen.

„Die Ersetzung gewählter Bürgermeister durch Zwangsverwalter schadet der Demokratie.“

Im März 2024 fanden Kommunalwahlen statt. Die Oppositionsführerin CHP holte den Sieg, Erdoğans AKP landete auf dem zweiten Platz. Daraufhin begann die AKP, sich die Kommunen durch Ein­setzung von Zwangsverwaltern zurückzuholen. Als TÜSIAD seine Kritik äußerte, waren in mehr als zehn mehrheitlich von der DEM-Partei als Vertreterin der Kurden regierten Kommunen Zwangsverwalter eingesetzt worden. Nach der Hauptversammlung von TÜSIAD setzte sich der Austausch gewählter Bürgermeister durch Zwangsverwalter fort. Zudem wurden kom­munale Abgeordnete der CHP verhaftet, die bei der Wahl mit Kurden kooperiert hatten. Ein Bürgermeister wurde festgenommen, weil er Erdoğans Foto aus seinem Büro entfernt hatte.

„Mangelnde Kontrollen führen zu Katastrophen, wie der Brand von Kartalkaya belegt.“

Ende Januar brannte ein Hotel in einem Skiresort im Westen der Türkei. 78 Menschen starben. Obwohl die Anlage dem Tourismusministerium untersteht, wurde die von der Opposition regierte Kommune für die Katastrophe verantwortlich gemacht. Kein einziger Verantwortlicher des Ministeriums wurde vernommen, aber die Leitung der Feuerwehr, die zum Löschen anrückte, kam ins Gefängnis. Auf gerichtliche Anordnung recherchierten Sachverständige vor Ort im Hotel und stellten fest, dass die Verantwortung beim Ministerium liegt. Daraufhin wurden die Sachverständigen vom Dienst suspendiert.

„Verhaftungen aufgrund von Pressemeldungen stellen eine ernsthafte Bedrohung der Pressefreiheit dar. Werden freie Medien zum Schweigen gebracht, verhindert das sachliche Information der Öffentlichkeit und schadet der Demokratie.“

Bei Ermittlungsverfahren gegen von der Opposition regierte Kommunen wurde stets ein und derselbe Sachverständige eingesetzt, er verfasste natürlich Gut­achten, die zur Verurteilung der Oppositionspolitiker führten. In Istanbul sind mehrere Tausend Sachverständige tätig, die Wahrscheinlichkeit, dass immer wieder dieser Mann bestellt wird, liegt bei 0.00000000000000001627. So viele Nullen lassen sich kaum schreiben. Die Polizei führte bei dem Fernsehsender, der diesen Gutachter interviewte, eine Razzia durch und nahm fünf Journalisten fest. Für sie wird Haft zwischen sechs und 14 Jahren gefordert. Der Chefredakteur sitzt seit ei­nem Monat hinter Gittern.

„In demokratischen Gesellschaften sollte Kritik von Organisationen der Zivil­gesellschaft nicht als Bedrohung, sondern als Entwicklungschance aufgefasst werden. Entscheidungsprozessen sollten Pluralismus und Partizipation zugrunde liegen.“

Eine Woche nach der TÜSIAD-Kritik wurden 60 Mitglieder des Demokratischen Volkskongresses HDK festgenommen. Der HDK ist ein Forum mit besonders breiter Basis in der Gesellschaft, das po­litische Parteien, Umweltorganisationen, LGBTQ-Vereine bis hin zu Vertretern religiöser Minderheiten repräsentiert. Mit der Operation bezweckt die Regierung, diese Organisation, die insbesondere in den Me­tropolen oppositionelle Wähler mobilisiert, mundtot zu machen.

„Ohne Rechtsstaatlichkeit und unabhängige Justiz kann wirtschaftliche Entwicklung nicht nachhaltig sein.“

In der Woche der TÜSIAD-Kritik verkündete die Oberaufsicht der öffentlichen Hand, dass sich die meisten Beschwerden über staatliche Einrichtungen 2024 gegen das Justizministerium richteten. Auch eine aktuelle Meinungsumfrage belegt, dass die Anzahl derer, die sagen: „Es gibt keine Gerechtigkeit im Land“, auf 71 Prozent gestiegen ist. Wie auch nicht? Als ein Richter die Künstleragentin, der von der Re­gierung versuchter Umsturz vorgeworfen wird, auf freien Fuß setzte, wurden Ermittlungen gegen ihn eingeleitet. Ein Leutnant wurde aus der Armee entlassen, weil er Kritik an „Togg“ geübt hatte, dem Auto aus heimischer Produktion, auf das Erdoğan so stolz ist. Und eine 76-Jährige, die bei einem Straßeninterview der Regierung Vorwürfe machte, musste eine Woche im Gefängnis verbringen. Zur selben Zeit veranstaltete die Propagandaeinheit des Palastes in London eine Podiumsdiskussion mit dem Titel: „Eine gerechtere Welt ist möglich“ und schickte Werbewagen mit diesem Slogan durch die Straßen.

Die Grenzen kennen

In seinen hier zitierten Kritikpunkten wies der TÜSIAD-Vorstand auch auf Pro­bleme der Wirtschaft hin. Der Schwerpunkt der Reden aber lag auf dem Mangel an Demokratie und Gerechtigkeit. Bereits wenige Stunden, nachdem die Presse die Kritik verbreitet hatte, erwies sich, wie berechtigt sie war. Denn der Oberstaatsanwalt von Istanbul, Akın Gürlek, von der Opposition auch „Mobile Guillotine“ genannt, leitete wegen versuchter Einflussnahme auf die Justiz und Verbreiten von Fake News Ermittlungen gegen die TÜ­SIAD-Vorstände ein. Der Justizminister verlautbarte: „Die laufen herum, um Spannungen im Land zu erzeugen, wie um Ermittlungen gegen sich herauszufordern.“

Nach der Rückkehr von seiner Asien­reise trat Erdoğan vor die Kameras und ging hart mit TÜSIAD ins Gericht: „In der neuen Türkei muss man seine Grenzen kennen. Man stachelt die Nation nicht auf und provoziert die staatlichen Einrichtungen nicht. Man versucht nicht, Druck auf die Justiz auszuüben.“ In den Minuten seines live im Fernsehen übertragenen Statements, sechs Tage nach den kritischen Reden auf der Versammlung, führte die Polizei die TÜSIAD-Vorstände zur Verneh­mung ab. Die beiden Unternehmer, die häufig Minister ins Ausland begleitet hatten und in etliche Länder exportieren, kamen auf freien Fuß, wurden aber mit Ausreiseverbot belegt.

Nie an der Hochschule gesehen

Das Palastregime ist außerstande, das Ausbluten zu stoppen. Es weiß natürlich, was geschieht, wenn die Geschäftswelt aus dem Regierungsbus aussteigt. Ebenso, wohin es führen würde, wenn keinerlei In­vestitionen mehr getätigt werden und die Arbeitslosigkeit weiter steigt. Deshalb versucht es, mit dem Knüppel der politisierten Justiz die Unternehmerschaft mundtot zu machen, wie sie es mit jedem macht, der sagt: „Der Sultan ist nackt!“ Wie sie es auch mit der Oppositionsführerin macht, die die Regierung in Bedrängnis bringt.

Nachdem die CHP beim Parteitag Ende 2023 eine neue Führungsspitze gewählt hatte, gewann sie 2024 die Kommunalwahlen. Anderthalb Jahre nach dem Parteitag hat Erdoğans Justiz jetzt ein Ver­fahren eingeleitet, um den CHP-Kongress wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten bei der Wahl des Vorstands für ungültig zu erklären. Und zwar auf Anzeige einer wegen Betrugs verurteilten Person hin.

Zudem hagelt es Prozesse gegen Erdoğans Widersacher Ekrem Imamoğlu, um ihn mit Politikverbot zu belegen. 23 Jahre Haft drohen ihm bereits, jetzt wurde ein weiteres Verfahren eröffnet, das 31 Jahre zurückreicht. Der Vorwurf lautet, sein Universitätsdiplom sei gefälscht. Nach 31 Jahren! Allerdings scheint die Sache wie ein Bumerang auf Erdo­ğan zurückzufallen. Denn Imamoğlu hat ein Diplom von einer staatlichen Univer­sität, an der er auch seinen Master machte, es liegen Fotos von ihm an der Universität und gemeinsam mit Kommilitonen dort vor. Erdoğan indes, des­sen Diplom seit Jahren angezweifelt wird, hat nie jemand an der Hochschule gesehen, die er abgeschlossen haben will. Dazu eine für Sie nebensächliche, für Erdoğan aber wichtige Fußnote: Wer in der Türkei Staatspräsident werden will, muss ein mindestens vierjähriges Hochschulstudium absolviert haben.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.

Seit 2016 berichtet Bülent Mumay in dieser Kolumne über die politischen Entwicklungen in der Türkei und ihre Auswirkungen auf das Alltagsleben. Am 2. April erscheint eine Auswahl dieser Texte unter dem Titel „Das kann mich hinter Gitter bringen – Briefe aus Istanbul“ mit 224 Seiten zum Preis von 24,– Euro bei Frankfurter Allgemeine Buch.

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