„Weil ihr Personalprobleme habt“: Die US-Sicht auf den Soldatenmangel der Ukraine ist nicht neu | ABC-Z

Beim Eklat im Oval Office sprach US-Vizepräsident Vance über Personalprobleme der ukrainischen Armee. Die Trump-Regierung fordert von der Ukraine, das Mindestalter für die Mobilisierung zu senken. Die Forderung ist nicht neu, aus ukrainischer Sicht aber zynisch.
Der Streit zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und dem US-Führungsduo Donald Trump und J.D. Vance hat mehr als ausreichend spannende und teils fassungslose Momente geliefert. So konfrontierte Vance Selenskyj allen Ernstes mit Mobilisierungsproblemen der ukrainischen Armee. Dabei hat die Ukraine zahlreiche Soldaten auch wegen einer kaum ausreichenden Unterstützung aus dem Westen verloren. Das gilt nicht nur für die ersten Kriegsmonate, sondern auch für den halbjährigen Engpass im Winter 2013/2014. Damals blockierten die Republikaner im US-Kongress Hilfspakete für die Ukraine – auf Druck von Donald Trump, der die Blockade als Wahlkampfinstrument einsetzte.
Wörtlich sagte Vance beim Eklat-Treffen im Oval Office zu Selenskyj: „Im Moment lauft ihr rum und zwingt Wehrpflichtige an die Front, weil ihr Personalprobleme habt. Sie sollten dem Präsidenten danken, dass er versucht, diesen Konflikt zu beenden.“ Selenskyj reagierte genervt und fragte, ob Vance jemals in der Ukraine gewesen sei, um sich die Probleme vor Ort anzusehen.
Schon die Biden-Regierung forderte, dass die Ukraine jüngere Soldaten an die Front schickt
Es steht außer Frage, dass die kleinere Ukraine Personalprobleme im Krieg gegen Russland hat. Dennoch die Art, wie Vance Selenskyj damit konfrontierte, ein Novum – wie so vieles in diesen Tagen. Aber nicht alles daran ist neu: Inhaltlich unterscheidet sich die Haltung der neuen US-Regierung in diesem Punkt kaum von der Biden-Administration.
Schon Joe Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan hatte öffentlich über die Notwendigkeit gesprochen, das Mindestmobilisierungsalter in der Ukraine zu senken. Aktuell darf erst ab 25 Jahren mobilisiert werden, während dies in vielen anderen Ländern, auch in Russland, schon ab 18 der Fall wäre beziehungsweise ist. Ähnlich sieht es Trumps Sicherheitsberater Michael Waltz. „Die Ukraine hat Probleme mit menschlichen Ressourcen“, sagte er bereits vor einiger Zeit. „Sie haben bisher zweifellos tapfer gekämpft, doch wir müssen sehen, wie sie dieses Problem lösen wollen.“
Für Waltz ging es ursprünglich vor allem um eines: die Stabilisierung der Front. Dies sei dringend notwendig, um ernsthafte Verhandlungen mit Moskau überhaupt erst führen zu können. Seit diesen Worten ist eine gefühlte Ewigkeit vergangen. Waltz greift Selenskyj inzwischen ähnlich hart an wie andere Mitglieder des Trump-Teams.
Auch wenn Russland an der Front kein echter Durchbruch gelungen ist, erzielt die russische Armee im Donbass seit einigen Monaten schnellere Geländegewinne als zuvor. Daran konnte auch die ukrainische Operation in der russischen Region Kursk nichts ändern. Die logistisch und strategisch wichtige Stadt Pokrowsk steht unter enormem Druck. Auch befindet sich die russische Armee aktuell nur vier Kilometer von der Region Dnipropetrowsk entfernt, was für den weiteren Verlauf des Krieges vor allem politische Konsequenzen hätte: Neben der 2014 von Russland annektierten Krim-Halbinsel und den Bezirken der Ukraine, die im September 2022 in die russische Verfassung reingeschrieben wurden, ist die russische Armee aktuell weiterhin nur in der Region Charkiw auf dem Boden aktiv.
Mehr Material hätte viele Leben gerettet
Trotzdem haben die Vorschläge aus den USA aus ukrainischer Perspektive immer zynisch geklungen, ob jetzt oder auch zuvor. Einerseits ist den Ukrainern klar, dass die Ausweitung der Mobilisierung im Krieg mit einem Feind wie Russland unausweichlich ist. Andererseits weiß man gerade in der Ukraine, dass die Zurückhaltung der USA bei den Waffenlieferungen Folgen hat. Wegen fehlender Waffen und Munition hat die ukrainische Armee einige ihrer besten Soldaten verloren – jene mit Kampferfahrung aus dem Donbass-Krieg.
„Der Mangel an Ausrüstung und der Ausbildung darf nicht durch junge Soldaten ausgeglichen werden“, sagt Selenskyj stets – und schließt so die Senkung des Mobilisierungsalters aus, obwohl es in der Praxis gut möglich ist, dass die Ukraine diesen Schritt doch irgendwann gehen muss.
Nach dem russischen Großangriff vom 24. Februar 2022 und der Ausrufung des Kriegsrechts hatte die Ukraine zunächst lediglich ab 27 Jahren mobilisiert. Es gab auch immer Soldaten zwischen 18 und 27 Jahren. Diese gingen aber freiwillig in die Armee oder entschieden sich nach dem Absolvieren des regulären Wehrdienstes für einen Vertrag. In der ersten Phase des großen Krieges war dies noch kein Problem. Denn die Ukraine konnte auf Hunderttausende Soldaten der sogenannten operativen Reserve zurückgreifen, die auf eine oder andere Art den ursprünglichen Donbass-Krieg erlebt hatten. Diese Männer hatten Kampferfahrung und wurden nach Ausrufung des Kriegsrechts als Erste eingezogen. Je länger der vollumfängliche Krieg jedoch dauerte, desto größer wurde der Bedarf, auch Männer einzuziehen, die keine oder nur wenig militärische Erfahrungen hatten.
Letzte Altersabsenkung fand 2024 statt
Derzeit dienen bei den ukrainischen Verteidigungskräften insgesamt rund 900.000 Menschen. Ihre Aufgabe ist nicht nur die Sicherung der riesigen, rund 1000 Kilometer langen Frontlinie. Die Ukraine muss zudem die nördliche Grenze zu Russland und Belarus schützen. Auch wenn hier aktuell nicht gekämpft wird, hatten die russischen Streitkräfte von dort im Februar 2022 angegriffen. Zudem ist viel Personal zu unterschiedlichen Logistik- und Unterstützungszwecken im Hinterland nötig.
So hat das ukrainische Parlament 2023 zunächst einmal das Mobilisierungsalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Selenskyj wartete aber rund ein halbes Jahr, bis er das entsprechende Gesetz unterzeichnete, was zeitlich mit der Verabschiedung der Mobilisierungsreform im Frühjahr 2024 zusammenpasste. Die Reform sah vor, dass alle Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren innerhalb von zwei Monaten ihre Wehrangaben etwa zum aktuellen Wohnort aktualisieren mussten. Weil Millionen von Ukrainern wegen des russischen Angriffs ihre Heimatorte verlassen mussten, blieben sie für Einberufungsämter quasi unsichtbar.
Serhij Rachmanin, Mitglied im Verteidigungsausschuss des ukrainischen Parlaments, der Zugang zu entsprechenden Zahlen hat, betont, dass die Reform zunächst einmal für einen deutlichen Zuwachs an Mobilisierten gesorgt hat, obwohl der Trend sich ab Herbst wieder abschwächte. Jedoch habe die Senkung des Mobilisierungsalters von 27 auf 25 zu keiner Veränderung des Durchschnittsalters in der ukrainischen Armee geführt, sagte er im ukrainischen Radiosender NV. Rachmanin vertritt die oppositionelle Partei „Stimme“ und sieht Selenskyjs Politik generell kritisch. Mit Blick auf die Forderungen aus Washington spricht Rachmanin aber vom Versuch der USA, die Verantwortung für eigene Fehler auf „fremde Schultern“ zu schieben.
Schrittweise Senkung des Mobilisierungsalters dürfte kommen
Wie auch immer sich die Lage entwickelt: Es ist unwahrscheinlich, dass die Ukraine das Mobilisierungsalter sofort von 25 auf 18 senken wird. Eher ist von einzelnen Schritten auszugehen. In jedem Fall steht die Ukraine vor komplizierten Entscheidungen. Das Durchschnittsalter in der ukrainischen Armee wird auf mehr als 40 Jahre geschätzt. Gerade in der Infanterie ist der Bedarf an jüngeren Soldaten riesig, und auch in den Drohneneinheiten wünscht man sich jüngeres Personal.
Gleichzeitig geht es nicht zuletzt wegen der Geburtenkrise in den 1990er Jahren um eine der schwächsten Altersgruppen in der ukrainischen Bevölkerung. Das löst Sorgen um die demografische Zukunft der Ukraine aus. Andererseits könnte man unterschiedlichen Einschätzungen zufolge in dieser Gruppe ohnehin maximal 400.000 Männer mobilisieren, möglicherweise sogar nur etwa die Hälfte. Hinzu kommt, dass Jugendliche, die knapp davor sind, 18 Jahre alt zu werden, immer häufiger das Land verlassen, bevor ihnen mit 18 die Ausreise verweigert wird. Diese Tendenz dürfte sich mit einer weiteren Senkung des Mobilisierungsalters verstärken.
Oleksij Melnyk, Oberstleutnant a.D. der ukrainischen Armee und Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit an der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa, bezeichnet die Linie Selenskyjs bei dieser Frage trotzdem als „populistisch“. Laut der ukrainischen Verfassung ist es die Pflicht der volljährigen Bürger, das Vaterland im Kriegsfall zu verteidigen. „Warum das für 24-Jährige de facto nicht gilt, für 25-Jährige aber schon, ist eine Frage, auf die es auch mit Verweis auf die schwierige demografische Lage keine sachliche Antwort geben kann“, sagte er im Interview mit ntv.de.
Finanzierung der Streitkräfte bleibt ein Schlüsselproblem
Die Regierung in Kiew stellte aber inzwischen vorerst eine Zwischenlösung vor: Für 18- bis 24-Jährige soll es attraktive Verträge geben, um sie zu bewegen, sich freiwillig der Armee anzuschließen. Der einjährige Vertrag wird mindestens mit umgerechnet 23 000 Euro dotiert, mit Zusatzzahlungen kann man im Laufe des Jahres sogar bis zu 46.000 Euro verdienen. Nach einem Jahr darf man schließlich das Land verlassen, was Männer zwischen 18 und 60 Jahren seit Verhängung des Kriegsrechts nicht dürfen. Auch darf der zukünftige Soldat seine Einheit selbst aussuchen. Der Nachteil allerdings: Zur Auswahl stehen fast nur Infanteriebrigaden. Dass 18- bis 24-Jährige anders als andere Soldaten, die teilweise seit drei Jahren an der Front sind, nach einem Jahr frei werden, sorgte in der Ukraine durchaus auch für kritische Stimmen.
Unabhängig vom Alter der Mobilisierten bleibt die Finanzierung der Streitkräfte eins der Schlüsselprobleme des Landes. Während der Westen Waffen und Munition liefert, dürfen westliche Finanzhilfen fast ausschließlich für nichtmilitärische Zwecke genutzt werden. So besteht der Großteil des ukrainischen Militärbudgets von mehr als 40 Milliarden Euro jährlich aus eigenen Steuer- und Zolleinnahmen. Die Mobilisierung ist aber teuer und nimmt zusätzlich Steuerzahler aus dem System. Es ist ein schweres Dilemma, welches im weiteren Kriegsverlauf für die Ukraine nur noch komplizierter werden dürfte.