Geopolitik

Bernhard Vogel: Ein Maschinist der Macht | ABC-Z

Der Vogel war eigentlich ein Fuchs. Bernhard Vogel, der an diesem Montag verstorbene frühere Ministerpräsident von Thüringen und Rheinland-Pfalz, war sogar ein sehr klassischer Fuchs. Einer von der Sorte, wie es sie früher in der Politik vielleicht noch öfter gab als heute. Ein Stratege, ein frecher. Einer, von dem all seine Nachfolger wussten: Sie können ihn beständig um Rat fragen. Aber sie konnten sich zugleich nie ganz sicher sein, ob er nicht auch noch etwas Zweites im Schilde führt, von dem sie nun wahrlich nicht erfahren würden. Weil er immer schon drei Winkelzüge weiterdachte, und weil er das auch nicht verbarg; sein Lächeln verriet es.

Bernhard Vogel ist ein Unikat gewesen, als Maschinist der Macht und des Machbaren: Ministerpräsident nicht nur in zwei deutschen Bundesländern, in Rheinland-Pfalz (1976 bis 1988) und Thüringen (1992 bis 2003). Sondern damit eben auch: als Ministerpräsident in Ost und West; als Mann, der das Land schon zusammenführte, als alle noch dachten, es sei doch längst eins (später stellte sich heraus: Der Weg, eins zu werden, war weit.). Bernhard Vogel war einer dieser Westdeutschen, die in den Osten gingen, nicht um Unfrieden zu stiften oder um noch mal Karriere zu machen ohne Reue. Nein: Er war einer, der gerufen wurde in wirklich höchster Not. Ganz nebenbei war er auch einer, der Spannungen aushielt, politische Gegensätze. Wie konnte es anders sein, mit dieser Geschichte, schon familiär: Er in der CDU. Sein Bruder Hans-Jochen in der SPD, nicht minder erfolgreich, als Regierender Bürgermeister von Berlin und Bundesminister in mehreren Ämtern, als Vorsitzender der heiligen SPD in Willy Brandts direkter Nachfolge.

Zurück zu Bernhard, und damit in den Osten. 1992 hatten sich die Ostdeutschen in Thüringen zerstritten. Josef Duchač war als Ministerpräsident zurückgetreten, nach Stasi-Vorwürfen und irrwitzigsten Gerüchten um seine Verwicklungen in der DDR. Die Thüringer Union stand vor dem Zusammenbruch, einige Protagonisten, die später noch Schlagzeilen machen sollten – etwa Christine Lieberknecht – übten sich fröhlichst in erbitterten Machtkämpfen. Der Thüringer CDU-Chef Willibald Böck, so erzählte es Vogel einmal, rief unvermittelt bei ihm, Vogel, an, am 24. Januar 1992: Ob er bereit sei, nach Erfurt zu kommen? Er müsse Regierungschef werden! „Ich habe sehr ausweichend geantwortet“, so Vogel Jahre später in der ZEIT. „Am Wochenende, am späten Sonntagabend, habe ich mit Helmut Kohl telefoniert, der wiederum aber nicht wollte, dass ich in Thüringen Ministerpräsident werde. Das war mir recht.“ Am folgenden Montag, Vogel war in München im Restaurant, sei eine urbayerische Kellnerin an Vogels Tisch gekommen. Sie habe gefragt: „Heißt hier oanna Vogel?“ „Das konnte ich ja nun nicht leugnen“, erinnerte sich Vogel. „Sie führte mich daraufhin zum Telefon, und da war Helmut Kohl am Apparat.“

Sofort nach Thüringen

Was Kohl, der Bundeskanzler, wollte? Einen Sinneswandel verkünden. Hören wir es uns an in Bernhard Vogels Worten, später in der ZEIT: „Bernd, sagte er, ich sitze hier mit den Verantwortlichen aus Thüringen im Kanzleramt; unter anderem dem Landesparteichef Böck, der Ministerin Christine Lieberknecht, dem zurückgetretenen Ministerpräsidenten Josef Duchač. Man habe intensiv beraten – der einzige Kandidat, auf den man sich einvernehmlich einigen könne, sei ich. Fahr sofort nach Thüringen.“ Und dagegen habe er sich nicht wehren können, gegen den Kanzler zumal, erzählte Vogel, von sich begeistert, ja: schelmisch grinsend. 

Vogel hatte die DDR ganz gut gekannt, ein Dutzend Mal sie auch besucht. Er hatte, nicht ganz unwichtig, in Rheinland-Pfalz mehrfach Schlachten und Wahlen gewonnen – und selber erbitterte Machtkämpfe, etwa gegen Helmut Kohl persönlich, geführt. Als der, bis dahin rheinland-pfälzischer Regierungschef, 1976 komplett in die Bundespolitik wechselte, wurde Vogel dessen Nachfolger. Gegen Kohls Willen, der eigentlich Heiner Geißler favorisiert hatte (auch noch so ein CDU-Fuchs und Urgestein).

Vogel wurde in Rheinland-Pfalz ein durchschnittlich erfolgreicher Ministerpräsident, am Ende abgesägt von seiner eigenen Partei. In Thüringen jedoch kamen seine Fertigkeiten zur Blüte. Er konnte vermitteln, er konnte entwickeln, er konnte – Fuchs halt – immer schon ein wenig früher als die anderen sehen, was bald geschehen würde und was daraufhin zu tun sei. Im Machtstrategischen war er den Ostdeutschen dieser Zeit logischerweise voraus. Der langjährige Eichsfelder Landrat Werner Henning (CDU) sagte jetzt, nach Vogels Tod: „Er kam als Praktiker des altbundesdeutschen Politikbetriebes, fand aber in uns einen ihm seelenverwandten Menschenschlag, dem er stets gern helfen wollte.“ Genau das war es, das Erfolgsrezept. Ähnlich wie Kurt Biedenkopf mit seinen Sachsen machte es Bernhard Vogel mit seinen Thüringern. Er schätzte ihre Geschichte und ihre Fertigkeiten, er redete sie stark in der Zeit der Schwäche. Er gab ihnen Halt, und sie gaben es ihm zurück: mit fulminanten Wahlergebnissen, absoluten Mehrheiten, jahrelangem Frieden. Als Vogel das Ministerpräsidentenamt 2003 an Dieter Althaus weitergab, war das Bundesland, nach Sachsen, das wirtschaftlich erfolgreichste des Ostens, mit einem der besten Schulsysteme der Republik. 

Guter Rat vom alten Bernd

Seither, seit nunmehr 20 Jahren, war der Fuchs weiterhin als Weissager gefragt. Wer etwas wissen wollte über die CDU oder die deutsche Politik, der fuhr nach Speyer – in Vogels Lebensstadt, in der er nach der Karriere wieder lebte – und befragte ihn, den klugen Alten. Wohl keiner konnte besser beschreiben, was in der Bundes-CDU, aber auch auf Landesebene so vor sich ging. Im April vorigen Jahres, die Ampelregierung war noch nicht zerbrochen, befragte auch ein Reporter der ZEIT das Orakel von Speyer. Herr Vogel, wird Merz mal Kanzler? Er antwortete: „Sollte sich die Frage in Kürze stellen, will ich das nicht ausschließen. Sollte sich die Frage erst bei der nächsten Bundestagswahl stellen, würde ich denken, dass es einen anderen Kanzlerkandidaten gibt.“ Er behielt recht.

Vogel beriet, von Speyer aus, nicht nur CDU-Freunde, sprach nicht nur mit Journalisten. Auch Bodo Ramelow, als Linker und Thüringer Ministerpräsident Nach-Nach-Nachfolger Vogels, konnte sich sicher sein: Wenn nötig, gab’s einen guten Rat vom alten Bernd. Auf den Linken im MP-Amt ließ Vogel nicht viel Schlechtes kommen. Dass die Zeiten eben kompliziert sind und dass es deshalb Pragmatismus brauche, leuchtete ihm ein. Er war damit viel weiter als viele andere in der Union, und er war da auf einer Wellenlänge mit Angela Merkel, deren – ja! – Fan er war. Und trotz aller Sympathie zu Ramelow war Vogel froh, als im vergangenen Jahr wieder ein CDU-Mensch in die Thüringer Staatskanzlei einzog. Mario Voigt, wenn auch mit schmalem Wahlerfolg.

Was kommt nach dem Tod?

Auch ein Vogel lag nicht immer richtig. Als die Thüringer Union 2020 für kurze Zeit Thomas Kemmerich ins Amt des Ministerpräsidenten wählte, und zwar gemeinsam mit der AfD – da hatte auch Vogel sich mit verzockt. Hatte seiner Fraktion strategische Volten empfohlen, am Ende selbst Überblick und Zugriff verloren. Dass er ein Mann vergangener Zeiten war, als die Verhältnisse noch stabil schienen – auch das zeigte sich immer wieder. Die Disruption der Welt, die auch in Thüringen zuschlägt, sah er nicht so groß, wie sie war. Fällt Thüringen an die Rechtsextremen? Das fragte ihn der Reporter der ZEIT im vorigen Jahr. „Ich fürchte“, sagte Vogel, „dass die AfD stark bleibt. Aber ich hoffe, dass AfD und Linke zusammen nicht stärker werden als die übrigen Parteien. Dann kann es zu einer mehrheitsfähigen Regierung der Parteien der Mitte unter dem CDU-Chef Mario Voigt kommen.“ Das klang nicht mehr danach, als hätte er die erdrutschartig verschobene politische Lage, die sich in den Thüringer Wahlergebnissen wenig später zeigte, tatsächlich auf dem Schirm. Dass in Erfurt inzwischen ein Ministerpräsident der CDU mit SPD und BSW regieren muss und trotzdem keine Mehrheit hat; dass die AfD mit weitem Abstand stärkste Kraft ist; dass man überlegen muss: Wie lange ist dieses Bundesland überhaupt noch regierungsfähig? Das ist doch unerhört im Bernhard-Vogel-absolute-Mehrheiten-Land.

Nun, und andererseits war Vogel immer einer, der wollte, dass Politiker Probleme lösen, statt große Worte zu machen, vielleicht könnte man davon auch heute wieder vieles lernen. „Momentan gibt es in der deutschen Politik eine Kultur des planlosen Versprechens. Ich beklage, dass Politiker zu viel versprechen“, sagte er. „Ich beklage aber auch, dass Wähler zu oft auf solche Versprechungen hereinfallen.“ Er wäre, nicht nur in dieser Frage, auch für Friedrich Merz ein guter Berater gewesen. Ihm wird er als Kanzler nun nicht mehr helfen können.

Politik ist die Kunst des Möglichen, nicht die des Unmöglichen, sagte Vogel. „Aber es ist auch falsch, zu jammern. Politiker kann man nur mit Leidenschaft werden. Wer Geld verdienen will, sollte lieber den Beruf eines Sparkassendirektors anpeilen. Der ist nicht ganz so belastend und finanziell interessanter.“

Er warte nicht auf den Tod, sagte Vogel 2024. „Aber ich weiß, dass er nicht mehr lange wartet.“

Was kommt danach?

„Nach meinem Verstand die Gefahr, dass es zu Ende ist. Nach meinem Glauben das ewige Leben.“ 

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