100 Jahre Stil und Einfluss im Journalismus | ABC-Z

In Dallas wurde vor anderthalb Jahren, am 6. Oktober 2023, die berühmteste Zeichnung aus der hundertjährigen Geschichte des „New Yorker“ versteigert. Der Hammer fiel bei 175.000 Dollar (inklusive Aufgeld). Das Blatt zeigt zwei Hunde vor einem Schreibtisch mit einer Tastatur und einem Computerbildschirm. Der eine Hund sitzt auf dem Schreibtischstuhl, der andere blickt vom Boden zu ihm auf. Der Hund auf dem Stuhl hat eine Pfote auf die Tastatur gelegt und sagt: „On the internet, nobody knows you’re a dog.“ Die Legende steht handschriftlich auf dem Blatt im Format 28 mal 23 Zentimeter, der Künstler hat sein Werk schwungvoll signiert, in der Höhe des Halsbands des unteren Hundes, sodass der erste Buchstabe die Kante des Schreibtischs schneidet: P. Steiner – Peter Steiner, geboren 1940.
Wäre dieser Artikel mithilfe einer Zeitmaschine für den „New Yorker“ der langen Ära des 1951 verstorbenen ersten Chefredakteurs Harold Ross geschrieben worden, hätten hoffentlich wenigstens einzelne Formulierungen das drakonische Redigat überlebt, für das Ross gefürchtet war. Dass die Geschichte mit Ort und Datum einsetzt, hätte wohl seine Billigung gefunden.
Denn der Gründer verpflichtete die Autoren der illustrierten Wochenzeitschrift, die doch von Anfang an für das Ephemere und Zeitlose zuständig sein sollte, für Stimmungen und Ohrwürmer, für alles, was in der Weltstadt New York die kleine Welt eines gebildeten Publikums mit viel freier Zeit ausmacht, auf das Grundprinzip der harten Schule des Nachrichtenjournalismus: Am Anfang muss gesagt werden, worum es geht. Ein Text im „New Yorker“ hat nach dem Willen von Ross einzusetzen wie der Drahtbericht des Korrespondenten einer Nachrichtenagentur. Alle wichtigen Tatsacheninformationen müssen im ersten Absatz enthalten sein, denn man sollte immer damit rechnen, dass die Telegraphenleitung durchgeschnitten oder der Leser unterbrochen wird.
Ein stillschweigendes Zugeständnis
Für den „New Yorker“ als Erstveröffentlichungsort von Gegenwartsliteratur war die Artikelkopflastigkeit der Redigiermaßstäbe von Ross ein Handicap. Die moderne Kurzgeschichte möchte eben wegen ihrer Kürze nicht mit der Tür ins Haus fallen. Mit John Cheever, dem der „New Yorker“ 1935 die erste Geschichte abkaufte, wurde ein Virtuose der verdrängenden Bewirtschaftung alpdruckreifen Hintergrundwissens zum Hausautor. Cheevers Nachfolgerin im Fach des nicht bloß stilistisch, sondern auch inhaltlich zurückhaltenden, nämlich die Mitteilung verheerender Tatsachen aufschiebenden Erzählens, Alice Munro, verdiente sich sogar den Nobelpreis.
Als zwei Monate nach Alice Munros Tod ein autobiographischer Zeitungstext einer ihrer Töchter eine Tatsache offenbarte, die ihr Gesamtwerk in ein neues, unheimliches Licht rückte, erschien im „New Yorker“ ein halbes Jahr später eine tiefschürfende Erörterung des Verdachts, Munro habe Literatur und Leben zu sehr vermischt und am Ende verwechselt, nämlich das Familiengeheimnis des sexuellen Missbrauchs unmenschlich lang für sich behalten, sodass sie es als Stoff ihrer Geschichten verarbeiten konnte, während sie die klärende Auseinandersetzung mit ihrer Tochter hinausschob. Rachel Avivs Studie dieses Grenz- oder Extremfalls für die Literaturkritik, in der Tatsachenfragen gewöhnlich durch Klärung aus dem Weg geräumt werden, damit das ästhetische Urteil freie Bahn hat, war als Beitrag zu einer Rubrik ausgewiesen, für die nicht in jeder Nummer Platz ist, weil sie besonders viel Platz braucht: „A Reporter at Large“.
Der „New Yorker“ konserviert eigene Gattungen, die im Zuge der Evolution des Heftes oft recht früh ihre Namen erhalten haben. Sie decken den Kanon des Magazinjournalismus ab und drücken mit dem ungenierten Ehrgeiz des Ortsgeistes einen Willen zur Übererfüllung der Standards aus. Manche Reportagethemen machen es nötig, dass der Reporter sich ausbreitet. Stillschweigend ist damit zugestanden, dass das Wesentliche nicht immer in den ersten Absatz passt.
Zeitlos klassischer Komödienstoff
Der fixen Idee von Harold Ross, dass dem Leser am Anfang alle Tatsachen vor die Augen geschüttet werden müssen, korrespondierte eine Grundentscheidung über die äußere Form der Artikel, die man für eine Marotte halten wird, wenn man bedenkt, dass der „New Yorker“ eine Zeitschrift für Autoren sein will, und wenn man diesem Bedenken die Maßstäbe der Werbewirtschaft unterlegt. Auf Anordnung von Ross erschien der Name des Verfassers erst am Schluss des Artikels. Er oder sie trug für alles Voranstehende die Verantwortung.
Der Redakteur machte sich unsichtbar. Das ist zwar so üblich in der Arbeitsteilung zwischen Autor und Redakteur, die dem Verhältnis von Autor und Lektor in der Buchverlagswelt entspricht. Aber der „New Yorker“ nimmt die Anonymität des Redakteursberufs ernster und wörtlicher als die Konkurrenz. Es gibt keinen „masthead“, es wird nicht oben auf der ersten Seite jedes Heftes die Zusammensetzung der Redaktion oder wenigstens die Besetzung der Chefetage ausgeflaggt. Andere Intelligenzblätter wie „The Nation“ oder „The New Republic“ schmücken sich im Impressum mit den Gelehrten, die mehr oder weniger regelmäßig Beiträge liefern.
Auf diese Form von Reklame verzichtet der „New Yorker“. Gerade deshalb umgibt den Titel des „staff writer“ in den biographischen Hinweisen hinter den Autorennamen (die es unter Ross natürlich noch nicht gab) eine unschätzbare Aura. Der Begriff des Stabs weckt militärische Assoziationen. Man malt sich eine Kasernierung der Schreiber in den Redaktionsräumen aus oder wenigstens turnusmäßiges Einrücken zu Schreibübungen. Dabei handelt es sich um eine Ehrenbezeichnung, die traditionell auch nicht mit einer Alimentation jenseits der Honorierung der einzelnen Artikel verbunden ist. Einige Redakteure waren selbst bekannte Autoren oder wurden später als Autoren berühmt, wie James Thurber, der unter Ross sogar ein paar Monate als Chef vom Dienst (oder im Jargon der Ross-Jahre: Genius vom Dienst) amtierte, also für die Organisation der Redaktionsarbeit zuständig war, und 1957 das Memoirenbuch „The Years With Ross“ veröffentlichte. Ross schrieb in seiner Zeitschrift keine einzige Zeile. Diese Tradition setzt der heutige Chefredakteur David Remnick nicht fort, der erst der fünfte Inhaber des Amtes in hundert Jahren ist.

Im Jubiläumsheft berichtet die Historikerin Jill Lepore, Professorin in Harvard, Bestsellerautorin und Stabs-Schreiberin von beneidenswerter Vielseitigkeit, aus den Redaktionsakten, die allerdings auch schon Buchautoren wie Ben Yagoda („About Town – The New Yorker and the World It Made“, 2000) benutzt haben, über das Innenverhältnis von Redakteuren und Autoren. Als Schlachtenbeschreibung ist der Artikel angekündigt: „The Editorial Battles That Made the New Yorker“. Zur Feier des Geburtstags breche man gleich alle drei goldenen Hausregeln: Man solle nie über die Autoren schreiben, nie über die Redakteure und nie über die Zeitschrift. Lepores Rede vom Tabubruch gehört zum Lockvogelgezwitscher in der Beziehung zwischen Zeitschrift und Leserschaft, in der man sich auf beiden Seiten etwas darauf einbildet, nicht zu leicht zu schockieren zu sein.
Diese Form der Geburtstagsfeier hat etwas Gesellschaftsspielerisches. Die von Lepore beschriebenen Schlachten sind keine inhaltlichen Auseinandersetzungen über große politische Stücke wie John Herseys Reportage aus Hiroshima und Hannah Arendts Bericht über den Eichmann-Prozess oder etwa über die politischen Einstellungen der wechselnden Korrespondenten, in deren Hände der „Letter from Washington“ gelegt wurde. Redakteure gegen Autoren: Das ist zeitlos klassischer Komödienstoff nach dem Modell des von Thurber ein für alle Mal skizzierten Krieges der Geschlechter. Die Variationen in Lepores Serie von Anekdoten ergeben sich aus Konstellationen von Charakteren.
Mit fröhlicher Arroganz
Ein nach außen bis zur Selbstauslöschung gesteigerter Habitus der Diskretion ist auf der Innenseite des Redakteursberufsalltags mit einem breiten Spektrum von Umgangsstilen der Mitarbeiter- und Autorenführung vereinbar. Ross war ein Diktator, der durch kommunikative Überflutung regierte. Redigieren, Überarbeiten von Manuskripten, ist eine schriftliche Tätigkeit. Bei Ross produzierte sie eine Textmenge, die den Umfang des später Gedruckten um ein Vielfaches überstieg. Sein Nachfolger William Shawn pflegte die konträre Strategie einer extremen Lakonie, als könnte im Auge des Sprachbildersturms, den das Organ gewählter Redseligkeit entfesselt, nur ein großer Schweiger Kurs halten.
Das Motto der Tageszeitung „New York Times“ lautet „All the news that’s fit to print“. Im Umkehrschluss soll gelten: Was nicht in der Zeitung steht, war nicht wert, gedruckt zu werden. Eine ähnlich programmatische Losung ist die Überschrift der Rubrik, die seit eh und je das „New Yorker“-Heft eröffnet: „The Talk of the Town“. Soweit das Stadtgespräch dort nicht ab- und umgeschrieben worden war, mag Shawn sich gedacht haben, musste er es nicht auf dem Redaktionsflur vermehren. Der Chefredakteur lässt seine Autoren zappeln: Shawn trieb den strategischen Einsatz der Schweigsamkeit so weit, dass er manche Texte über Jahre im Stehsatz stehen ließ, im Limbus des kunstgerecht Eingerichteten, abschließend Korrigierten und doch Ungesagten.

Den typographischen Konservatismus, von der unveränderten Schriftart, die zu Ehren von Rea Irvin, dem ersten Art-Direktor und Zeichner des ersten Titelbildes, den Namen Irvin erhalten hat, bis zu Hauseigenheiten der Zeichensetzung, kann der „New Yorker“ sich leisten, weil er sich einem Stilideal der mündlichen Rede verpflichtet hat. Das formvollendet Niedergelegte soll beiläufig klingen. Im Reich des Wortes ist das Klassische auch etwas Konventionelles, beruht auf stillschweigender, gegebenenfalls im spontanen Wortwechsel unter Schlagfertigen erneuerter Übereinkunft. Mit fröhlicher Arroganz hieß es 1925 im ersten Verlagsprospekt, der „New Yorker“ sei nicht gemacht „für die alte Dame in Dubuque“, der ältesten Stadt im Staat Iowa.
Das Schlimmste wurde befürchtet
Der „New Yorker“ heißt nach den Bürgern seiner Stadt, weil damit ein Ideal des Geschmacksurteils gesetzt ist. Gerade dort, wo die Maßstäbe häufig wechseln, weil man sich nicht nachsagen lassen darf, eine Mode verpasst zu haben, kann am Ende nur das Beste gut genug sein. Frank Schirrmacher, von 1994 bis zu seinem Tod 2014 einer der Herausgeber der F.A.Z., beschwor in den innerredaktionellen Kampagnen, durch die er sein Feuilleton großstädtischer machen wollte, unverdrossen das Vorbild von „The Talk of the Town“, konnte aber nie angeben, was genau seine Redakteure nachbilden oder nachahmen sollten. Diese Verlegenheit beruhte gewiss nicht auf fehlender Lektüre, aber auch er kannte „The Talk of the Town“ sozusagen nur vom Hörensagen, weil der Witz der in der Rubrik gebotenen Mischung aus Momentaufnahmen, Kurzglossen und stenographierten Gerüchten ein Je-ne-sais-quoi ist.

Das Faktenchecken ist die journalistische Technik, deren Gebrauch nicht obsessiv genug sein kann. Der Bankier, der nach Schalterschluss zurückkehrt, um zu überprüfen, ob er sein Kontor auch wirklich abgeschlossen hat, gehört zum Typenpersonal der Witzzeichnung, aber der Redakteur, der so mit den von ihm betreuten oder verfassten Texten verfährt, hat seinen Beruf nicht verfehlt. Harold Ross, den Heros der Gegenprobe, darf man sich in der Erfüllung seiner pädagogischen Sendung dennoch nicht ausschließlich passiv-aggressiv vorstellen. Nach Fakten fragte er nicht erst, wenn eine Reportage auf seinem Schreibtisch lag und er ausschließen wollte, dass ihm der Reporter eine selbst gehäkelte Geschichte andrehte, in dem irrigen Glauben, das merkten die Leser doch gar nicht. Jacob Burckhardt ging an die griechische Kulturgeschichte mit der Arbeitshypothese heran, dass „im Thukydides eine Tatsache ersten Ranges berichtet sein“ könnte, „die man erst in hundert Jahren anerkennen wird“. In derselben Weise betrachtete Ross den gewaltigen ungeschriebenen Text namens New York. Mit schriftlichen Instruktionen ließ er seine Stammautoren ausschwärmen, damit die Stadt ihre noch nicht gewürdigten Tatsachen ausplauderte. Einer dieser Auftragszettel trägt das Datum des 17. Dezember 1930: „Wer ist Mr. Donovan, der alle Aufzüge inspiziert? Jedermann in der Stadt muss seinen Namen gelesen haben, und er dürfte eine hübsche kuriose Person hergeben (‚a good freak personality‘), zusammen mit einem Absatz über die Inspektion von Aufzügen.“
Ross stellte den Tatsachengehalt nicht nur bei den Reportagen und Kurzgeschichten auf die Probe, sondern auch bei den Zeichnungen, den Cartoons. Sie kommen gar nicht als Beiträge zur Zeitgeschichte daher, sind keine politischen Karikaturen, keine Kommentare zu Ereignissen. Im Gegenteil wenden sie sich von der Gegenwart ab: Es sind Witzzeichnungen, die aus dem ewigen Vorrat dieser Gattung an Situationen und Figuren schöpfen. Ebendeshalb können sie an beliebigen Stellen in die Woche für Woche fortgeschriebene Chronik der Gegenwart eingeschoben werden. Jahrzehntelang waren sie, von Vignetten abgesehen, die einzigen Illustrationen im Heft. Ross wollte trotzdem, dass alles in ihnen stimmt, wie absurd auch immer die Situationen sind und wie grotesk die Figuren. So monierte er im Juli 1938 am Entwurf eines Witzes über die Zerstörung einer als unzerstörbar beworbenen Puppe, dass ein Vater einen Vorschlaghammer nicht im Wohnzimmer schwingen würde, weshalb die Szene in den Hinterhof verlegt werden solle.
So hätte der Chefredakteur dem Autor des vorliegenden Artikels womöglich die Frage vorgelegt, ob das Original des tausendfach reproduzierten Cartoons über den Hund, der sich Auslauf im Internet verschafft, in Dallas wirklich unter den Hammer kam oder diese Formel nur ein Klischee nachlässigster kulturjournalistischer Routine ist. Die Antwort: Ja, der texanische Auktionator verwendete das Werkzeug seines Standes.

Peter Steiners Zeichnung wurde in der Ausgabe vom 5. Juli 1993 gedruckt, als in der Zeitschrift gerade das große Umkrempeln begonnen hatte. Tina Brown, 1992 zur Chefredakteurin ernannt, kürzte die Durchschnittslängen der Texte und führte im Heftinneren Farbe und Fotos ein. Das Schlimmste wurde befürchtet, trat aber nicht ein – wie in einer beliebten Untergattung der Witzzeichnung, in der ein Prophet in der Berufskleidung des Sandwichmannes aus der ambulanten Werbung folgenlos den Weltuntergang ankündigt. Unter Tina Browns Nachfolger Remnick schuf sich der „New Yorker“ einen Doppelgänger im Internet, der mit seiner eleganten Erscheinung und seinem gewitzten Auftreten nur sich selbst Konkurrenz machen kann – wie man es sich einst über Truman Capote zuflüsterte, als dieser als Botenjunge beim „New Yorker“ anfing. Remnick, 1998 berufen, amtiert jetzt schon ein Jahr länger als Ross, der auf seinem Posten starb. Anonymität, die Verheißung der Großstadt, wird vom Internet verwirklicht – Peter Steiner erkannte das bemerkenswert früh. Fakten sucht heute jedermann im Netz, aber mit Sicherheit findet man sie immer noch im „New Yorker“.
Kann eine Zeichnung zum geflügelten Wort werden? Steiners Werk ist das gelungen, als Meme hat es sich von seinem Medium gelöst. Damit ist aber auch ein geheimer Traum von Harold Ross in Erfüllung gegangen, der die Zeichnung immer idealistisch auffasste: Die Pointe braucht im Zweifel kein Bild. Das Profil des Fahrstuhlinspektors ist übrigens nie erschienen. Mr. Donovan hat hundert Jahre lang sein Geheimnis gewahrt.