Verzerrte Wirklichkeit: Der Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter hinaus? Falsch! | ABC-Z

Grüne, SPD und Linke wollen nach der Wahl die „Reichen“ härter rannehmen, weil die Ungleichheit in Deutschland immer krasser werde und das Geld fehle. Wirklich?
Was, wenn die Gesellschaft in Wahrheit gar nicht fortgesetzt ungerechter wird, die relevante Armut nicht wächst, die „Schere“ nicht auseinandergeht und dem Sozialstaat seit Langem kein „Kahlschlag“ droht oder auch nur ansatzweise widerfahren ist? Was, wenn das alles ganz überwiegend nicht stimmt, aber dennoch jedes Jahr Hunderte von Milliarden Euro damit bewegt werden? Es könnte nämlich sein, dass Ungerechtigkeit und Armut auf der einen Seite sowie der deutsche Sozialstaat auf der anderen nicht wie das Problem und seine Lösung zueinanderstehen, sondern wie das Problem und seine Verschärfung.
Das Große und Ganze lässt sich anhand weniger Zahlen erkennen. Wenn Arbeitslosigkeit – auch für alle Kräfte links der Mitte – den Inbegriff gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und die mit Abstand wichtigste Ursache für Armut darstellt, ist Deutschland seit Anfang der Nullerjahre gerechter geworden: Die Zahl der Arbeitslosen sank von rund fünf Millionen auf 2,5 Millionen (und ist in den letzten Jahren wieder um einige Hunderttausend gestiegen). Die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse liegt inzwischen bei um die 45 Millionen. Noch vor drei Jahrzehnten galt die Grenze von 40 Millionen übrigens als absolut unüberwindbar. Die Halbierung der Arbeitslosigkeit geht nach fast einhelliger Meinung der Experten maßgeblich auf „Hartz IV“ zurück. Damit hat die Sozialstaatsreform der Agenda 2010, neben der „Rente mit 67“ die letzte große seit gut 20 Jahren, Deutschland gerechter und sozialer gemacht: Wenn nämlich sozial ist, was Arbeit schafft, wie die Sozialdemokraten früher selbst sagten.
Zugleich haben sich die gesamten Ausgaben für Sozialleistungen, das sogenannte „Sozialbudget“, in den letzten 30 Jahren auf knapp 1,25 Billionen Euro pro Jahr rund verdreifacht (Rente und Pensionen inbegriffen). Das klingt wie eine Explosion, ist es aber nicht. Gemessen an der Wirtschaftskraft des Landes stieg der Anteil von 26 Prozent bis auf 32,8 Prozent in der Coronakrise 2020 und ging danach wieder auf 30,3 Prozent (2023) zurück. Das sind moderate Ausschläge, aber eines definitiv nicht: ein Skandal des fortgesetzten Sozialabbaus oder der Pauperisierung der Sozialleistungsempfänger.
Stattdessen ist die Zahl der Empfänger im Sozialstaat massiv gestiegen, denn die Zahl der verschiedenen Leistungen ist größer geworden und – wie etwa beim Wohngeld oder der Grundsicherung für Rentner politisch gewollt – auch der Kreis der berechtigten Empfänger. Die Familien in Deutschland beziehen heute bald 20 Milliarden Euro mehr an Sozialleistungen als noch vor fünf Jahren: Das Kindergeld wurde mehrfach erhöht (derweil die Zahl der Geburten in Deutschland sinkt, aber danach fragt keiner). Und der Finanzminister berechnete zuletzt für 2024: „Allein die Kosten der neu von der Koalition eingeführten oder seit 2022 erhöhten Sozialleistungen belaufen sich in diesem Jahr auf 12,7 Milliarden Euro.“ Für 2025 erwarte er „noch höhere Kosten“.«
Wenn also die Arbeitslosigkeit deutlich gesunken ist und die Sozialausgaben gestiegen sind, hat der (vermeintliche) Siegeszug des Neoliberalismus dann den Staat geschrumpft, wie die Kritiker unterstellen? Die Antwort lautet: nicht wirklich. Aktuell sind laut Statistischem Bundesamt rund 5,3 Millionen Menschen beim Staat, im öffentlichen Dienst, beschäftigt. Das sind über 500.000 mehr als im Jahr 2008. Dass man in Berlin trotzdem keinen Termin beim Amt bekommt, die Gerichte Jahre für Bescheide brauchen oder das Planen einer Baustelle am Personalmangel im Bauamt scheitert – mit irgendetwas wird es zusammenhängen, mit einem generellen Personalabbau aber nicht. Übrigens ist selbst die Zahl der Lehrer in den letzten zehn Jahren gestiegen, derweil die Zahl der Schüler schrumpfte. Der (Sozial-)Staat spart sich kaputt und wird darum immer ungerechter? Nein.
Der „Gini“-Koeffizient
Sind dann die Einkommen in Deutschland ungerechter, weil sie weiter auseinandergedriftet sind? Auch hier die Antwort: eher nicht. Die Maßzahl dafür heißt „Gini“-Koeffizient, man lernt das im ersten Semester Volkswirtschaftslehre. Bei Gini Null hat jeder dasselbe Einkommen, bei Gini Hundert hat einer das gesamte Einkommen und der Rest nichts. In Deutschland pendelt der Gini-Wert seit eineinhalb Jahrzehnten um die 30, zuletzt lag er unter 29 und damit niedriger als der EU-Durchschnitt. Dieses Niveau mag für ungerecht halten, wer will. Aber die Lage ist stabil. Der Satz „Die Schere geht immer weiter auf“ ist bei den Einkommen eine Lüge, bestenfalls ein Irrtum.
Auch das Verhältnis der Einkommensgruppen untereinander war lange Zeit weitgehend stabil. Wegen Einführung und Erhöhungen des Mindestlohns haben die unteren Einkommensgruppen nun ein Stück aufgeschlossen. Die oberen zehn Prozent der Bruttoverdienste (laut Statistischem Bundesamt ein Stundenlohn von durchschnittlich 36,48 Euro) erhielten 2023 das 2,98-Fache der zehn Prozent am wenigsten Verdienenden (12,25 Euro Stundenlohn). Ein Jahr zuvor lagen die Bestverdiener noch deutlich weiter vorn, sie hatten das 3,28-Fache der Geringverdiener. Und Ehre, wem Ehre gebührt: Die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde war ein eingelöstes Wahlkampfversprechen der SPD. Kein Wunder, dass Olaf Scholz 2025 seinen Wahlkampfschlager wiederholen möchte: Jetzt sollen es 15 Euro sein. Das könnte die Schere weiter schließen.
Letzter Punkt der kleinen Übersicht, was Deutschland angeblich immer ungerechter macht: die Verteilung der Vermögen. Wenn überhaupt, dann könnte es tatsächlich an dieser Stelle ein gesamtgesellschaftliches Gerechtigkeitsproblem geben, das der große Verfassungsrichter Böckenförde einst so fasste: Die materielle Ungleichheit in der Gesellschaft „darf ein gewisses Maß nicht überschreiten, sonst geht sie über in Unfreiheit“, schrieb er in seinem Sondervotum zum 1995er-Urteil über die Vermögenssteuer. Wenn sich diese Ungleichheit „ungezügelt potenzieren“ könne, gerate die verfassungsgemäße Ordnung insgesamt in Gefahr. Nach Böckenförde gibt es also eine bestimmte Grenze der ungleichen Verteilung zu beachten und eine ungebremste Bewegung darüber hinaus zu verhindern.
Nun: Laut der aktuellen Erhebung des Bundeswirtschaftsministeriums besitzt das „obere“ Zehntel der Gesellschaft rund 60 Prozent des Gesamtvermögens in Deutschland. Die untere Hälfte hingegen hat nur 2,3 Prozent. Das klingt krass. Der Eindruck ist allerdings zu Ungunsten der weniger gut Betuchten verzerrt, weil bei der Berechnung die Rentenansprüche der Deutschen außen vor bleiben. Sie sind erheblich: Eine durchschnittliche Rente von 1600 Euro im Monat summiert sich auf ein Einkommen von 19.200 Euro im Jahr. Um diesen Betrag bei einer Verzinsung von drei Prozent zu erzielen (vor Steuern), bräuchte es rechnerisch 620.000 Euro Kapital, also Vermögen. Bei einer Verzinsung von vier Prozent wäre es noch knapp eine halbe Million Euro Vermögen. Auf so viel „Geld“ bzw. vermögensgleichen Ansprüchen sitzt also der deutsche Durchschnittsrentner. Würde man diese Ansprüche einbeziehen, sähe die Vermögensverteilung vermutlich weniger ungleich aus.
Trotzdem ist es politisch völlig legitim, die Verteilung der Vermögen in Deutschland „ungerecht“ zu nennen. Nicht nur der neue Grünen-Co-Chef Felix Banaszak fordert deshalb von der Ampel-Nachfolgeregierung eine handfeste Vermögenssteuer. In den vergangenen Jahren seien „einige Vermögen überproportional gewachsen, während immer mehr Menschen Angst vorm Dispokredit haben – und zwar nicht am 29., sondern schon am 23. des Monats“, wie er in einem Interview sagte. Ok, aber bitte nicht unterschlagen: Seit 2011 ist diese Verteilung nahezu konstant (Gini-Koeffizient 77). Seitdem verdoppelten sich die Werte des obersten, des untersten und der drei mittleren Zehntel aller Vermögen. Man marschiert quasi im Gleichschritt, die Verteilung bleibt gleichermaßen ungleich. Wie gesagt, diesem Zustand kann man den Kampf ansagen und etwa eine Vermögensteuer fordern. Aber man darf die Verteilung der Vermögen in Deutschland nicht „immer ungerechter“ nennen, denn das ist faktisch falsch – und zugleich eine sehr typische falsche Wahrheit, ein sehr typischer linker Glaubenssatz. Die Schere bleibt so weit offen, wie sie ist.