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Schweizer Ängste vor den großen Nachbarn | ABC-Z

Warum sollte die Schweiz ihr wackeliges Verhältnis zur Europäischen Union auf eine solide Grundlage stellen? Auf diese Frage hin erzählt der Unternehmer Simon Michel gerne vom Weg eines Teddybären aus einer Spielzeugwarenfabrik im schweizerischen Thun: Das Kuscheltier muss zahllose Tests bestehen, bevor es in den Verkauf gehen darf. Wie zum Beispiel, ob die angenähten Augen nicht abreißen, auf dass Kleinkinder sie nicht verschlucken und daran ersticken können. Das untersucht die Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA). Wenn sie ihr Okay gibt, darf der Bär nicht nur in der kleinen Schweiz angeboten werden, sondern automatisch auch in der großen EU mit ihren 450 Millionen Einwohnern in 27 Ländern. Dafür sorgt das Abkommen über die „gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen“.

Es ist Teil der mehr als 100 bilateralen Verträge, die der schweizerischen Wirtschaft seit einem Vierteljahrhundert freien Zugang zum europäischen Binnenmarkt gewähren. „Mit dem Prüfsiegel der EMPA kann der Thuner Spielzugfabrikant seine Teddybären ohne Weiteres in der EU verkaufen, aber nicht in China, Indien oder den USA. Dort muss er zunächst die jeweiligen Zulassungsverfahren durchlaufen“, erläutert Michel.

Mitbestimmung durch das Europäische ParlamentAP

Er setzt sich dafür ein, dass die Schweiz ihren privilegierten Zugang zum europäischen Binnenmarkt behält. Michel ist Vorstandsvorsitzender des Medizintechnikunternehmens Ypsomed und als Parlamentsabgeordneter der FDP auch politisch aktiv. Er befürwortet das Vertragswerk, auf das die Regierung in Bern und die Europäische Kommission in Brüssel sich Ende des vergangenen Jahres grundsätzlich verständigt haben. Es soll Lücken in den bilateralen Verträgen zu technischen Handelshemmnissen, Personenfreizügigkeit, Landwirtschaftsgütern sowie zum Luft- und Landverkehr schließen. Und es soll den Weg zu neuen Abkommen auf den Feldern Strom, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit ebnen. In trockenen Tüchern ist das Ganze aber noch lange nicht: Das Schweizer Parlament und das Volk müssen dem Paket erst noch zustimmen.

Schweiz verstößt gegen geltendes Freizügigkeitsabkommen

Das neue Vertragswerk bringt eine wichtige Neuerung in die bilateralen Beziehungen. Im bestehenden Vertragsbündel ist die Schweiz nicht dazu verpflichtet, sich an Weiterentwicklungen des Rechts der EU anzupassen. Nach der Brüsseler Logik müssen Schweizer Unternehmen, die Zugang zum Binnenmarkt haben, sich aber den gleichen Regeln unterwerfen wie jene aus der EU. In der Realität geht diese Rechtsanpassung oft nur schleppend und manchmal auch gar nicht voran.

Zum Ärger der Kommission in Brüssel verstößt die Schweiz auch seit Jahren gegen das geltende Freizügigkeitsabkommen: Mit einem bürokratischen Schutzwall erschwert sie ausländischen Firmen den temporären Arbeitseinsatz in der Schweiz. Die Auseinandersetzung darüber blieb bisher ungelöst, weil es keinen Mechanismus zur Streitbeilegung gibt.

Künftig soll es nun klare Regeln für die Übernahme von EU-Recht geben. In Streitfällen soll ein paritätisch besetztes Schiedsgericht entscheiden. Sofern EU-Binnenmarktrecht berührt ist, muss zuvor die Meinung des Europäischen Gerichtshofs eingeholt werden. Damit soll gewährleisten werden, dass die Schweiz im wirtschaftlichen Miteinander nicht bessergestellt wird als die EU-Mitglieder.

Änderungen im EU-Recht, die sich auf die genannten Verträge auswirken, soll die Schweiz nach den neuen Regeln „dynamisch“ übernehmen. Das bedeutet: Regierung, Parlament oder Volk können in jedem Einzelfall ein Veto einlegen. Falls das geschieht, darf die EU Ausgleichsmaßnahmen verlangen, zum Beispiel reziprok den Zugang zur EU beschränken. Das Schiedsgericht prüft dann, ob die Maßnahmen verhältnismäßig sind.

Europäischer Binnenmarkt für die Schweiz vorteilhaft

Die Schweiz profitiert stark vom hindernisfreien Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Mehr als die Hälfte des Exports geht in die EU. Daher lobt der Wirtschaftsverband Economiesuisse, der rund 100.000 Unternehmen aus allen Branchen und Regionen der Schweiz vereint, die nach jahrelangen Verhandlungen erreichte Einigung mit Brüssel: Geregelte Beziehungen und Rechtssicherheit im Verhältnis zum wichtigsten Handelspartner seien von essenzieller Bedeutung.

Rational ist vielen Schweizern durchaus bewusst, dass sie ihren Wohlstand in erheblichem Maß der engen Verflechtung mit Europa verdanken. Emotional sträuben sie sich aber gegen eine engere Anbindung. Die Europäische Union ist keine Herzensangelegenheit, im Gegenteil: In der Schweizer Seele herrschen der EU gegenüber Abneigung und tiefsitzende Angst vor einem Verlust an Souveränität. Das gilt umso mehr, als die Bürger über den direktdemokratischen Teil ihres politischen Systems stärker als andere Völker das Bewusstsein haben, dass sie selbst im Land die höchste Instanz sind. Symbolisch hierfür steht die Landsgemeinde, die es heute noch in Appenzell-Innerrhoden und Glarus gibt. In diesen Kantonen versammeln die Bürger sich einmal im Jahr unter freiem Himmel und stimmen mittels Handheben über Gesetze und Ausgaben ab.

Die nationalkonservativen Kräfte im Land haben die Angst vor der EU in den vergangenen Jahren nach Kräften befeuert, allen voran die Schweizerische Volkspartei (SVP). Sie haben damit Erfolg. Das Selbstverständnis vieler Schweizer speist sich mittlerweile zu großen Teilen aus der Gegnerschaft zur EU.

Warnung vor dem „EU-Bürokratiemonster“

Neu ist, dass auch Teile der Wirtschaft auf Distanz gehen. Eine Gruppe unter dem Namen „Allianz Kompass Europa“ trommelt laut gegen eine Einigung mit Brüssel und verunsichert damit Unternehmenslenker wie Politiker. Dahinter stecken die steinreichen Gründer der Partners Group: Alfred Gantner, Marcel Erni und Urs Wietlisbach. Ihr auf Privatmarktanlagen (Private Equity) spezialisiertes Beteiligungsunternehmen, ansässig im steuermilden Kanton Zug, hat einen Börsenwert von rund 37 Milliarden Franken. Im Herbst tourte das Milliardärstrio durch die ganze Schweiz. In Vortragssälen, Mehrzweckhallen und Restaurantstuben warnte es das Publikum vor der angeblich drohenden „EU-Passivmitgliedschaft“.

In der Eventlocation „Freiruum“ in Zug folgten rund 150 vornehmlich ältere Zuschauer Alfred Gantners Vortrag. Leger gekleidet und locker im Ton, legte der Unternehmer mit allerlei Schaubildern und Statistiken dar, dass die Schweiz der EU in allen Belangen überlegen sei. Ob Arbeitslosenquote, Staatsverschuldung, Wirtschaftswachstum, Inflation, Realeinkommen oder Kaufkraft – überall schneide die Eidgenossenschaft besser ab. Daraus leitete Gantner die rhetorische Frage ab: „Wollen wir unsere Wirtschaft dem langsameren Wachstum der EU anpassen?“ Er warnte vor dem „EU-Bürokratiemonster“ und orakelte, dass die Schweiz bis zu 8000 Rechtsvorschriften übernehmen müsse.

Zu den 3600 Unterstützern der Allianz Kompass Europa zählen auch mittelständische Unternehmer wie Marco Sieber. Der Inhaber der SIGA Holding AG, die mit ihren Produkten den Energieverbrauch von Gebäuden senkt und zu 80 Prozent vom Export lebt, trat ebenfalls in Zug auf. „Mit dem Abkommen handeln wir uns eine Überregulierung ein“, schimpfte Sieber. Über die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation bleibe der Zugang zur EU auch ohne das neue Vertragswerk bestehen. Im Übrigen liege die Zukunft der schweizerischen Unternehmen ohnehin eher in den wachsenden asiatischen Märkten und in den Vereinigten Staaten. Dort solle die Schweiz über Freihandelsverträge den Zugang weiter verbessern.

Über den Aufwand, Produkte im EU-Raum zu zertifizieren

Michel von Ypsomed schüttelt über den Feldzug der Kompass-Leute nur den Kopf. Er hat mit seiner eigenen Firma erfahren, was es bedeutet, den bevorzugten Marktzugang zur EU zu verlieren. Als die Schweizer Regierung im Mai 2021 die Verhandlungen mit der EU über ein institutionelles Rahmenabkommen zunächst abgebrochen hatte, weigerte sich die EU-Kommission, das just zu diesem Zeitpunkt endende Abkommen zur gegenseitigen Anerkennung von Zertifikaten für die Medizintechnikbranche zu aktualisieren. „Daraufhin mussten wir unsere Produkte neu im EU-Raum zertifizieren“, sagt Michel. Das habe beträchtliche Kosten verursacht und dazu geführt, dass gut ein Viertel der Produkte jetzt nicht mehr verfügbar sei. Der Aufwand sei zu groß gewesen, sie neu zuzulassen. Dank vergleichsweise hoher Margen habe Ypsomed die Neuzertifizierung für die anderen Produkte stemmen können. „Aber andere Branchen mit regulierten Produkten könnte das hart treffen“, sagt Michel.

Nach Angaben der Regierung in Bern muss die Schweiz mit dem neuen Vertragswerk rund 150 Rechtsakte mit Gesetzescharakter von der EU übernehmen und dazu gut 30 Gesetze anpassen. Das ist weit weniger als die Zahl von 8000 Rechtsakten, die der Aktivist Gantner verbreitet. Die Änderungen beziehen sich nur auf die genannten acht Verträge. Neue Regulierungen aus Brüssel wie das Lieferkettengesetz oder rund um den „Green Deal“ berühren die Schweiz nicht direkt, weil sie nicht in die Anwendungsbereiche der bilateralen Abkommen fallen.

Wie die Schweizerische Volkspartei schüren die Aktivisten gegen das neue Vertragswerk auch Ängste vor „fremden Richtern“, weil bei Streitigkeiten mit Brüssel auch ein Schiedsgericht oder der Europäische Gerichtshof eine Rolle spielen kann. Gerade diese Einbindung von Gerichten aber könnte sich zugunsten der Schweiz auswirken, argumentieren die Befürworter. Anders als bisher könnte die EU die Schweiz unter dem neuen Vertragswerk nicht mehr willkürlich und außerhalb der Binnenmarktabkommen für Regelverstöße bestrafen – so geschehen, als sie die Schweizer Börse nicht mehr als gleichwertig mit den Handelsplätzen der EU anerkannte oder als sie Wissenschaftlern aus der Schweiz den Zugang zum EU-Forschungsförderprogramm Horizon Europe versperrte.

Kampf gegen Annäherung an EU stärkt Rechtspopulisten

Trotz dieses Zugewinns an Rechtssicherheit feuert die SVP aus allen Rohren gegen den angeblichen „Unterwerfungsvertrag“. Der Kampf gegen eine Annäherung an die EU und gegen Zuwanderung hat die rechtspopulistische Partei zur mit Abstand wählerstärksten Kraft gemacht. Die beiden Kernthemen verknüpft die Partei in ihrer Volksinitiative gegen eine angeblich drohende „10-Millionen-Schweiz“ – gemeint ist die Einwohnerzahl, die derzeit noch bei neun Millionen liegt. Die Abstimmung darüber könnte 2027 stattfinden. Die SVP nimmt das Unbehagen in der Bevölkerung über den steigenden Zustrom an Ausländern auf, die – angelockt von den hohen Löhnen – zu mehr als zwei Drittel aus der EU kommen. Knapper Wohnraum, hohe Mieten und volle Züge sorgen für Verdruss, den die Rechtspopulisten eifrig bewirtschaften.

Falls die Schweizer die SVP-Initiative annehmen, liefe es darauf heraus, dass die Schweiz das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU kündigen müsste. Für die Wirtschaft wäre das ein schwerer Schlag. Das inländische Arbeitskräftereservoir ist viel zu klein, um den Bedarf zu decken. Ohne die Fach- und Arbeitskräfte aus der EU, die jetzt noch problemlos rekrutiert werden können, müssten Baubetriebe, Restaurants, Hotels und Krankenhäuser schließen. Pharmakonzerne wie Roche und Novartis wären wohl gezwungen, Teile ihrer Forschungsabteilungen ins Ausland zu verlagern, zumal sie die demographische Entwicklung ohnehin vor Probleme stellt. Nach einer Studie von Economiesuisse könnten in der Schweiz in zehn Jahren rund 460.000 Vollzeitbeschäftige fehlen.

Um der SVP-Initiative Wind aus den Segeln zu nehmen, setzen die Proeuropäer auf die Schutzklausel, welche die Schweizer Regierung in den Verhandlungen mit der EU errungen hat: Bei „schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen“ darf Bern den Zustrom von Arbeitskräften aus der EU künftig bremsen. Wie diese Bremse ausgestaltet sein könnte, ist noch offen. Diskutiert wird über eine Abgabe oder Kontingente für Zuwanderer. Aus derlei Ins­trumenten könnte im Parlament ein Gegenvorschlag zur SVP-Initiative entwickelt werden. Falls dieser beim Volk durchkäme, so das Kalkül, verbesserten sich auch die Erfolgschancen in der danach folgenden Abstimmung über die Verträge mit der EU.

Freilich könnte noch eine weitere große Hürde entstehen: Die Allianz Kompass Europa sammelt gerade Stimmen für eine eigene Volksinitiative. Die EU-Gegner wollen damit erreichen, dass es in der Abstimmung über das EU-Vertragswerk nicht nur einer Stimmenmehrheit des Volkes bedarf. Zusätzlich soll auch die Bevölkerung in mehr als der Hälfte der 26 Kantone Ja sagen. Ständemehr nennen das die Schweizer. Es wäre in der umstrittenen Europafrage vermutlich nicht zu erreichen.

Obwohl Gantner & Co. Millionen Franken in ihre Kampagne buttern, haben sie die notwendigen 100.000 Unterschriften für ihre Initiative noch lange nicht beisammen. Dabei geizen die Milliardäre nicht mit Anreizen: Die drei Sammler, die bis Ende Februar die meisten Unterschriften herbeischaffen, werden mit zwei Übernachtungen im Hotel Guarda Val in Lenzerheide belohnt. Dort kostet ein Doppelzimmer zwischen 250 und 535 Franken je Nacht.

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