Die Unzufriedenheit mit der Regierung wächst | ABC-Z

Der demographische Wandel trifft ländliche und strukturschwache Regionen Deutschlands mit voller Wucht: Die Bevölkerung altert oder wandert ab, Arbeitskräfte werden rar, Arztpraxen und Schulen schließen, grundlegende Infrastruktur fehlt. Besonders in Ostdeutschland führt das zu Pessimismus und sinkender Lebenszufriedenheit. Hinzu kommt eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Regierung, insbesondere mit Blick auf die Migrations-, Energie- und Klimapolitik.
Besonders die Grünen provozierten durch ihr Auftreten und ihr Politikverständnis, so die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch. Das Ziel grüner Politik, dass sich im „Zeitalter großer Umbrüche“ auch der individuelle Lebensstil ändern müsse, wirke bevormundend.
Extremen Parteien wie der AfD beschert das mehr Wähler, vor allem in Gebieten mit niedriger Wirtschaftskraft. Besonders stark schneidet die AfD in sogenannten „Transformationsregionen“ wie Auto- und Stahlstandorten ab, die einen industriellen Umbruch erleben, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) untersucht hat. Die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz ist dort groß.
Dem IW zufolge steigt die Zustimmung zur AfD in Kreisen mit älterer Bevölkerung, hoher Jugendarbeitslosigkeit, einem hohen Anteil an Handwerksunternehmen und Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe sowie einer signifikanten ausländischen Bevölkerung.
Das Wahlverhalten hängt weniger von der objektiven wirtschaftlichen Lage ab, sondern vielmehr von einem Gefühl des „Abgehängtseins“ – dem Eindruck, es lebe sich in der eigenen Region schlechter als anderswo, sagt Hanno Kempermann, Geschäftsführer von IW Consult. Aus Sicht von Ökonom Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut liegt das Wahlverhalten weniger an der Stadt-Land-Kluft, sondern wird vom Ost-West-Gefälle überlagert.
Einfach mehr Fördergeld auszuschütten, wird nicht reichen
Besserung ist nicht in Sicht: Der demographische Wandel und die angespannte finanzielle Lage vieler Landkreise werden die Situation weiter verschärfen, sagt Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung Tutzing. Die Bundesregierung hat das Problem erkannt und strebt „gleichwertige Lebensverhältnisse“ zwischen Stadt und Land an. Aber wie soll das gelingen?
Deutschland hat mit seiner dezentralen Wirtschaftsstruktur vom Wandel in den vergangenen Jahrzehnten – der Globalisierung, den neuen Automatisierungstechnologien – insgesamt profitiert und vergleichsweise geringe Narben davongetragen. Das schrieb der Ökonom Jens Südekum in einem Gastbeitrag in der F.A.Z. vor einigen Monaten. Es gibt nicht die eine große Metropole, sondern vielmehr zahlreiche „Hidden Champions“, also Mittelständler, die in ihrer Nische oft global erfolgreich sind und im ländlichen Raum Arbeitsplätze sichern.
Die regionalen Unterschiede seien hierzulande kleiner als anderswo. In Deutschland fließen jährlich fast 100 Milliarden Euro in den Länderfinanzausgleich, unterstützt durch diverse Förderprogramme des Bundes, so Südekum. Doch die Differenzen, besonders zwischen Ost und West, werden nicht verschwinden. Wachsende Großstädte kämpfen um bezahlbaren Wohnraum, während ländliche Regionen unter Abwanderung leiden.
Südekum hebt hervor, dass weniger Jobs in der manuellen Produktion und mehr in digitalen Dienstleistungen die räumlichen Verhältnisse verschärfen werden. In dem Kontext nennt er ein Stichwort: Regionalpolitik. Sie spielt im Kampf gegen Deindustrialisierung derzeit eine Nebenrolle, doch das könnte sich ändern, vermutet der Ökonom und betont: „Einfach mehr Fördergeld über die Region zu kippen“, werde nicht reichen. Das Geld müsse an den richtigen Stellen eingesetzt werden.
Bürger auf dem Land fühlen sich mit Problemen nicht wahrgenommen
Um die Produktion vor Ort „umzubauen“, so Südekum, seien erhebliche Investitionen nötig – nicht nur von Unternehmen, es werde auch öffentlichen Förderbedarf erfordern. Das Problem: Die klassischen Instrumente der Regionalpolitik dürften in diesen Landkreisen gar nicht tätig werden. Sie lägen außerhalb der sogenannten Fördergebietskulisse, denn momentan stehen sie mit überdurchschnittlichen Einkommen wirtschaftlich noch gut da.
Die Regionalförderung, die alle Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe und im Dienstleistungssektor bekommen können und bei der kleinere Unternehmen bevorzugt werden, hält auch Ökonom Ragnitz für sinnvoll, ohne dabei eine große Branchenselektion vorzunehmen. Mit Blick auf Förderungen ist er ansonsten eher skeptisch. „Da geht’s bestenfalls um Sicherung der Daseinsvorsorge auf dem Land, aber dafür sind in erster Linie die Kommunen verantwortlich.“
Die Länder müssten sie mit entsprechenden Mitteln versorgen über den kommunalen Finanzausgleich, was nicht überall zufriedenstellend gelinge. „Der Bund könnte höchstens helfen, indem er Soziallasten in höherem Ausmaß übernimmt, statt diese der kommunalen Ebene zu überlassen“, sagt er.
In strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland einfach mehr Geld auszuschütten, das nicht bei den Leuten ankomme, ändere aber nichts, sagt Ragnitz. „Denn es müssten ja Leute zuwandern, um etwas zu ändern. Zuwanderer machen aber häufig einen Bogen um diese Regionen“, sagte er vor einigen Monaten im F.A.Z.-Interview. Die Politik könne nur dafür sorgen, dass etwa der Zugang zu Bildung, Mobilität und zu einem hochwertigen Gesundheitssystem gesichert bleibe. Auch der Bereich innere Sicherheit gehöre dazu – dafür seien aber die Länder und Gemeinden zuständig.
„Man darf der Wirtschaft nicht den Hals abdrehen“
Als größtes Problem des Ostens sieht Joachim Ragnitz den Mangel an Arbeitskräften. Man müsse daher in eine höhere Produktivität investieren oder für mehr Zuwanderung sorgen. Der Staat könne Investitionen und Zuwanderung aber nicht wirklich beeinflussen. Ohnehin seien Städte für Unternehmensansiedlungen attraktiver, vor allem wegen ihrer Infrastruktur, sagt Ragnitz.
Zwar sei die Ansiedlung großer Unternehmen in schwachen Regionen positiv, jedoch profitieren die Regionen selbst wenig davon, wenn Arbeitskräfte dadurch von anderen Unternehmen abgeworben werden. So gehe an den Standorten an anderer Stelle Beschäftigung verloren, weil kaum jemand zuwandere.
Wenn die Bundesregierung es schaffe, die Rahmenbedingungen zu verbessern, etwa durch günstigere Energie, könnten ländliche Räume in erheblichem Maße profitieren und für Unternehmen wieder attraktiver werden, weil sie über freie Flächen verfügen, die in den Städten knapp sind. Das sagt Hanno Kempermann von IW Consult. Um Arbeitskräfte anzuziehen, sei ein attraktives Umfeld auch außerhalb beruflicher Faktoren wichtig – etwa die infrastrukturelle Anbindung oder der Ausbau von Bildungsinfrastruktur.
„Gerade Industrieunternehmen, von denen zwei Drittel in ländlichen Räumen beheimatet sind, brauchen eine leistungsfähige Forschungs-, Gründungs-, Digital- und Verkehrsinfrastruktur, um ihre Innovationskraft weiter zu stärken“, sagt er. In den vergangenen Jahren habe die Innovationskraft deutscher Unternehmen abgenommen. „Man darf der Wirtschaft nicht den Hals abdrehen, indem man immer stärker fordert: Wir wollen CO2-Emissionen senken, egal was passiert, sondern man muss Freiräume schaffen.“
Eine Politik, die allein auf Infrastrukturmaßnahmen setzt, um einen Rückgang extremer Tendenzen zu erwirken, erscheint aber wenig erfolgversprechend. Zu dem Ergebnis kamen Forscher des Thünen-Instituts für ländliche Räume. In den Regionen wollen die Menschen die Lebenssituation vor Ort stärker aktiv mitgestalten.
Was die Parteien vorhaben
Die Politikwissenschaftlerin Münch fordert eine Sacharbeit, und zwar nicht auf „Nebenschauplätzen“, sondern „in den Bereichen, auf denen ein Großteil der Bevölkerung staatliches Handeln vermisst, allen voran innere und äußere Sicherheit, Erhalt der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, Steuerung von Migration und Bereitstellung zukunftsfähiger Infrastrukturen“.
Die Parteien haben die Problematik erkannt, bleiben teils aber vage. Mehrheitlich fordern sie etwa den Ausbau der Infrastruktur und des ÖPNV. Die CDU will auf einen „erfolgreichen Föderalismus“ mit starken Ländern und Kommunen setzen. Die Lasten der Kommunen seien in den vergangenen Jahren gewachsen. Die Union will die Raumplanung stärker nutzen, um Ballungsräume zu entlasten und gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Die „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Regionalen Wirtschaftsstruktur“ bleibt ein Leitinstrument. Für Bürger im ländlichen Raum will die CDU die Pendlerpauschale erhöhen.
Die FDP erwähnt nicht explizit den ländlichen Raum, aber die wirtschaftlichen Herausforderungen in den ostdeutschen Bundesländern. Sie ist für Steuersenkungen, Bürokratieabbau, die Umsetzung von Reallaboren und eine praxistaugliche Wirtschafts- und Forschungsförderung für die kleinen und mittleren Unternehmen vor Ort. Strukturelle Schwächen etwa bei medizinischer Versorgung, Schulangeboten oder Dienstleistungen will man angehen.
Die AfD spricht sich für eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben auch im ländlichen Raum aus. Wenn das „Heimatgefühl stärker ist als die Anziehungskraft urbaner Räume“, blieben Menschen im ländlichen Raum wohnen. Die AfD will das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen wiederbeleben und die Benachteiligung ländlicher Gemeinden bei der Finanzverteilung beenden. Unabdingbar für den Verbleib der Menschen in ihrer Heimat sei, dass diese nicht durch den Zubau mit Windkraftgroßanlagen zu einem „Industriepark“ verkomme.
Die SPD will Regionen mit besonderen Herausforderungen gezielt unterstützen. Investitionen in Infrastruktur und „die Stärkung lokaler Stärken“ sollen wirtschaftliche Dynamik und soziale Stabilität fördern. Dazu will sie etwa die Städtebauförderung ausbauen, den stationären Einzelhandel stärken und „faire Arbeitsbedingungen“ schaffen.
Die Grünen wollen die „Tatkraft und Innovationsfähigkeit“ der Betriebe erhalten und den Klimaschutz voranbringen, um in ländlichen Räumen Arbeitsplätze und Stabilität zu schaffen. Die Gemeinschaftsaufgabe Regionale Wirtschaftsentwicklung will die Partei ausbauen. Den Umstieg aufs E-Auto will man vor allem für Menschen mit wenig Einkommen auf dem Land fördern.
Während die meisten Instrumente im Durchschnitt positiv auf die Wirtschaftskraft der Zielregion wirken dürften, sind sie auch mit Problematiken verbunden. Darauf verweisen die Autoren des Ifo-Papiers „Strukturwandel in ländlichen Räumen“. Neu geschaffene Infrastruktur oder Subventionsprogramme könnten Verdrängungs- und Mitnahmeeffekte haben, sodass wirtschaftliche Aktivität lediglich verlagert werde. Ökonom Ragnitz verweist zudem darauf, dass der Osten ohnehin nie ganz an das Niveau des Westens herankommen werde. „Gleichwertigkeit heißt nicht, dass überall alles gleich ist, auch nicht, dass überall gleiche Einkommen erzielt werden.“