Großbritannien: Diesen Fehler von Scholz darf Starmer nicht wiederholen | ABC-Z

Wohl zum letzten Mal ist Olaf Scholz am Sonntag bei Keir Starmer in Großbritannien zu Gast. Beide Regierungschefs plagen ähnliche Probleme: Die Wirtschaft stagniert, die Zuwanderung nimmt zu. Starmer hat vieles davon geerbt und noch vier Jahre Zeit, um die Kurve zu kriegen – wenn er aus Fehlern der Ampel lernt.
Es dürfte ein Abschiedsbesuch werden: Am Sonntag reist Bundeskanzler Olaf Scholz nach Großbritannien, wo Premierminister Keir Starmer ihn auf seinem Landsitz in Chequers empfängt. Es treffen zwei politisch Gleichgesinnte aufeinander: Beide sind Sozialdemokraten, Scholz hatte Starmer im Sommer begeistert zum Wahlsieg gratuliert.
Doch für den SPD-Politiker könnte es das letzte Mal sein, dass er als Kanzler mit dem britischen Premierminister Tee trinkt. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass er nach der Bundestagswahl am 23. Februar das Kanzleramt räumen muss.
Aber auch für Starmer sieht die Zukunft alles andere als rosig aus. Seine Labour-Partei ist in den Umfragen gefallen – und das nach nur sechs Monaten im Amt. Immerhin ist man derzeit dennoch weiterhin stärkste Kraft – was aber auch an der Zersplitterung des rechten Lagers liegt. Noch im Sommer hatten die Briten den Sozialdemokraten nach 14 Jahren konservativer Regierung einen Erdrutschsieg beschert. Doch schnell folgte die Ernüchterung.
Die Wirtschaft stagniert weiter, die Zuwanderung nimmt zu. Probleme, die auch Deutschland nicht fremd sind und in beiden Ländern zu den Topthemen in den Umfragen gehören. Doch anders als die SPD hat Labour noch vier Jahre Zeit, das Ruder herumzureißen.
Will die Partei überleben, muss sie sich als Antwort auf den Rechtsruck in Europa und die hausgemachten Krisen klar positionieren. Ein Blick nach Deutschland könnte helfen, die Fehler der Schwesterpartei zu vermeiden.
Labour regiert ohne Koalitionspartner
Der britische Premierminister hat gegenüber seinem deutschen Amtskollegen einen Vorteil: Während die SPD jede Entscheidung mit ihren ungleichen Koalitionspartnern Grüne und FDP durchkauen musste, kann Labour in Großbritannien ohne Bündnispartner regieren.
Möglich macht dies das britische Mehrheitswahlrecht – nur der Kandidat mit den meisten Stimmen zieht ins Unterhaus ein, alle anderen Stimmen verfallen. Unter diesen Bedingungen konnte Labour im Sommer 411 von 650 Sitzen gewinnen, trotz eines Stimmenanteils von nur rund 34 Prozent. Damit waren die Weichen für ein stabiles Regieren ohne ständige Kompromisse mit anderen Parteien gestellt.
Eine große Mehrheit schützt indes nicht vor internen Konflikten – und die ließen nicht lange auf sich warten. Keine drei Wochen im Amt, suspendierte Starmer sieben Labour-Abgeordnete, weil sie gegen die Parteilinie für die Abschaffung der Deckelung der Kindergrundsicherung gestimmt hatten.
Schatzkanzlerin Rachel Reeves geriet wegen ihrer Sparpläne in die Kritik, besonders beim Jahreshaushalt. Nach ihrer mit Spannung erwarteten Wachstumsrede am Mittwoch folgte der nächste interne Streit – diesmal über ihre Unterstützung für eine dritte Startbahn am Flughafen Heathrow.
In diesen Fehden lauere Gefahr, warnt Nicolai von Ondarza, Politikwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik: „Labour muss eine einheitliche Linie finden, sonst droht ihr ein ähnliches Schicksal wie der Ampel in Deutschland.“ Dort zerbrach die Regierung letztlich an internen Machtkämpfen.
Ohnehin ist das Versprechen von Wirtschaftswachstum, mit dem die Labour-Partei ihren Wahlkampf aufgebaut hatte, ein politisches Reizthema. Tatsächlich konnte die Regierung bislang noch keine Erfolge auf diesem Gebiet vorweisen, im Gegenteil: Laut dem Statistikamt (ONS) verzeichnete die britische Wirtschaft im dritten Quartal 2024 kein Wachstum. Allerdings hatte Labour auch erst zu Beginn des Quartals die Regierungsgeschäfte übernommen.
In Deutschland sieht es ähnlich schlecht aus. Laut dem Statistischen Bundesamt beendete die deutsche Wirtschaft das Jahr 2024 mit einem Minus. Viele sehen die Verantwortung dafür bei der Ampel-Koalition: Laut dem ARD-Deutschlandtrend waren im Oktober 83 Prozent der Wähler mit der deutschen Wirtschaftspolitik unzufrieden.
Auch Labour fehlt eine klare Vision
Kanzler Scholz habe mit „Passivität“ auf die Herausforderungen reagiert, sagt von Ondarza. Ein Versäumnis, das er auch in Großbritannien beobachtet. „Labour braucht eine klare Vision und Botschaft, um Großbritannien aus dieser wirtschaftlich schwierigen Lage zu führen.“
Doch genau daran hapert es bislang. Der neue Plan, den Reeves am Mittwoch vorstellte und der auf Wachstum um jeden Preis setzt, erinnert in mancher Hinsicht eher an konservative als an sozialdemokratische Konzepte. Mit Sparplänen hatte sie in den vergangenen Monaten auch Rentner, Bauern und Kleinunternehmer gegen sich aufgebracht. Viele empörten sich, dass diese Maßnahmen kaum noch mit einer Arbeiterpartei vereinbar seien.
John Kampfner, britischer Journalist und ehemaliger Deutschlandkorrespondent, beschreibt diesen Zickzack-Kurs als „eine Politik der Angst“. „Politiker der linken Mitte wie Starmer und Scholz neigen dazu, ständig über die eigene Schulter zu schauen, anstatt ihre eigenen Strategien zu entwickeln und Erfolge erfolgreich zu kommunizieren.“
Ein weiteres Minenfeld ist die illegale Migration – ein zentrales Thema in Deutschland und Großbritannien, das nach den jüngsten Messerattacken durch Menschen mit Migrationshintergrund wieder heftig diskutiert wird.
Vergangene Woche erstach ein ausreisepflichtiger Afghane im bayerischen Aschaffenburg einen Jungen und einen Mann. Fast zur selben Zeit wurde der 18-jährige Axel Rudakubana in Großbritannien wegen Mordes an drei Mädchen in Southport zu einer Mindeststrafe von 52 Jahren verurteilt.
In beiden Ländern profitieren rechtspopulistische Parteien, die eine härtere Migrationspolitik fordern, von der aktuellen Debatte. Laut einer Allensbach-Umfrage hat die AfD (20 Prozent) die SPD (17 Prozent) überholt und liegt nun hinter der CDU/CSU (34 Prozent) auf Platz zwei. In Großbritannien kommt Nigel Farages Partei Reform UK laut einer aktuellen YouGov-Umfrage auf 25 Prozent – nur einen Punkt hinter Labour.
Politikwissenschaftler von Ondarza sieht eine Mitschuld bei der deutschen Bundesregierung: „Die Ampel-Koalition hat das Thema Migration lange vernachlässigt. Es gab mal einen Gipfel, mal Grenzschließungen, aber nie ein umfassendes Gesetzespaket mit klaren Antworten. So wurde das Feld den Rechtspopulisten überlassen“, erklärt er.
Labours Strategie des „Mittelwegs“
Die Schwierigkeit besteht darin, Antworten zu finden, ohne sich mit den Rechtspopulisten gemein zu machen, die teils illegale Maßnahmen zur Begrenzung der Migration fordern. Wie heikel das ist, zeigte sich am Mittwoch, als die CDU mit den Stimmen der AfD einen Antrag zur Verschärfung des Asylrechts durchbrachte.
Von Ondarza hält die Strategie des „Mittelwegs“ der Labour-Partei für Erfolg versprechender: „Labour setzt auf die Bekämpfung der illegalen Elemente der Migration, etwa den Kampf gegen Schlepperbanden, ohne sich komplett abzuschotten.“ Am Sonntag dürften auch diese Punkte auf der Agenda stehen. Doch für einen der beiden kommt jede Lehre wohl zu spät.
Mandoline Rutkowski ist Korrespondentin für die Berichtsgebiete Vereinigtes Königreich und Irland. Seit 2023 berichtet sie für WELT aus London.