Donald Tusk ruft Europa zu mehr Selbstbewusstsein auf – Politik | ABC-Z
Am Ende der freien Welt, am Fuße des fünf Meter hohen Stahlzauns, taut der Schnee. Ein Geländewagen der Grenzpolizei fährt durch den Matsch, darauf ein Beamter mit Kevlarhelm und Maschinenpistole. Unter dem grauen Januarhimmel funkelt der Nato-Draht, Kameras mit Wärmebildfunktion zeichnen jede Bewegung auf, drüben hinter dem Wald ruht das Feindesland.
Ein paar Meter von den Panzer-Barrieren aus Beton entfernt, die Polens Armee hier am Grenzübergang Połowce-Peschatka zwischen Polen und Belarus aufgestellt hat, spricht Oberst Mariusz Ochalski über die Vorbereitung auf den Ernstfall. Über die Operation „Schutzschild Ost“, die bis 2028 Polens Hunderte Kilometer lange Grenzen zu Belarus und Russland absichern soll. Über die Anti-Panzer-Minen, die hier ausgelegt werden, wenn der Feind angreift, und über die Drohnenabwehr. Über die Gräben, die man bereits ausheben lässt. Wenn man so wolle, ja, sagt er, „dann ist das der neue Eiserne Vorhang“.
Willkommen in der Realität des Jahres 2025, in dem sich der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zum dritten Mal jährt. Am 1. Januar hat Polen die Präsidentschaft im Rat der EU übernommen, das Leitthema ist Sicherheit in all ihren Ausprägungen, und über allem steht dabei, natürlich: die militärische Bedrohung. Europas Verteidigungsfähigkeit. Die massive Aufrüstung. Eine neue Abschreckung. Und wer an die Ostgrenze fährt in diesem Land, das mit fünf Prozent der Wirtschaftsleistung so viel für sein Militär ausgibt wie kein zweites in Europa, der kann den Begriff der Zeitenwende nicht mehr missverstehen. Ein russischer Angriff? Das ist aus polnischer Sicht nur mehr eine Frage der Zeit.
„Wenn Europa überdauern soll, dann muss Europa sich verteidigen können.“
Die Entschlossenheit, mit der Polen die EU- und Nato-Außengrenze sichert, ist wenige Tage später auch 1200 Kilometer entfernt in Straßburg zu spüren. Das Europäische Parlament hat Polens Ministerpräsidenten Donald Tusk eingeladen, um an diesem Mittwoch über seine Ratspräsidentschaft zu referieren. Er überzieht die zehnminütige Redezeit um mehr als das Dreifache, spricht ohne Manuskript eine Dreiviertelstunde lang und lässt keinen Aspekt aus, an den man beim Wort „Sicherheit“ denken könnte: Wirtschaft, Energie, Gesundheit, Migration – Militär.
„Wenn Europa überdauern soll“, sagt Tusk, „dann muss Europa sich verteidigen können. Und das ist noch lange kein Militarismus!“ Eine Spitze gegen linke und rechte Putin-Versteher, von denen in diesem Parlament einige sitzen. Tusks Rede soll ein Weckruf sein, er fordert die anderen EU-Staaten auf, es Polen gleichzutun und ebenso viel für Rüstung auszugeben. „Nehmen wir die Dinge ernst?“, fragt er. „Davon hängt nicht nur die Zukunft der Ukraine ab, sondern die Zukunft Europas und gewissermaßen auch die Zukunft der Welt, wie wir sie heute kennen.“ Um Europa in die Lage zu versetzen, sich selbst zu verteidigen, müssten zwangsläufig auch europäische Gelder ausgegeben werden.
:Fünf für eine effizientere Rüstungsindustrie
Die Verteidigungsminister von Polen, Deutschland, Frankreich, Italien und Großbritannien wollen die Waffenproduktion in Europa erhöhen. Sie setzen dabei auch auf Zusammenarbeit mit Firmen in der Ukraine, um das Land zu stärken.
In welcher Form – die Struktur möglicher gemeinsamer EU-Verteidigungsausgaben ist in Brüssel hochumstritten –, ließ Tusk offen. Man könne sich trefflich streiten über die technischen Einzelheiten. „Herzlich gerne, aber niemand wird diesen Bedarf abstreiten können“, sagte Tusk.
Seinen Aufruf muss man auch vor dem Hintergrund der zweiten Amtszeit des anderen Donald T. lesen, der am Montag ins Weiße Haus eingezogen ist. Tusk erwähnt Trump, mit dem Europas Vertrauen auf die immerwährende amerikanische Sicherheitsgarantie geschwunden ist, nur ein einziges Mal. „Einige von Ihnen glauben, dass eine politische Revolution stattgefunden hat in den USA“, sagt er zu den Abgeordneten. Das führe zu großer Verunsicherung. Europa stehe vor völlig neuen Herausforderungen, aber genau dafür habe man ja dieses Europa: um Herausforderungen wie diesen die Stirn zu bieten.
Im Angesicht von Trump tue Europa gut daran, ähnliche Worte zu sprechen, genauso laut seine Stimme zu erheben, mit der gleichen Überzeugung von seiner eigenen Größe zu sprechen. Nicht zuletzt: von der großen Zukunft, die diesem Kontinent noch bevorstehe. Europa habe seine Größe erreicht, „weil wir nie Angst hatten, auch nie Angst vor dem Ungewissen und dem Unbekannten“. Mehr Selbstbewusstsein, bitte: Tusks Rede gerät zum Weckruf.
Deshalb erinnert er auch mehr als einmal an die historische Größe Europas. Daran etwa, dass „Wettbewerb und Markt“ europäische Erfindungen seien, die man einst nach Amerika exportiert habe. Jetzt habe man keine Zeit zu verlieren, um im Sinne der wirtschaftlichen Sicherheit voranzukommen. Diese Legislatur müsse „eine der Deregulierung“ werden, fordert Tusk, die Energiepreise müssten sinken und die Umwelt- und Klimavorschriften überprüft werden.
Der Vortrag eines polnischen Ministerpräsidenten über das Thema Sicherheit wäre nicht komplett ohne Worte zur Migration. Was zurück führt zum Grenzzaun im Wald zwischen Polen und Belarus. Polen wirft Moskau und Minsk vor, gezielt Migranten über die Grenze zu schicken, als Mittel der hybriden Kriegsführung. Tusk will beweisen, dass Europa „mit dem Phänomen der illegalen Migration zurechtkommen“ kann. Die wichtigste Verantwortung eines jeden Machthabers sei jene für sichere Grenzen und die Sicherheit des Staatsgebiets. Der Zaun ist insofern auch ein Eiserner Vorhang gegen jene, die auf illegalen Wegen in die EU einreisen wollen. Und ein Symbol: für die Festung Europa.