Scholz in Chemnitz: Genosse Olaf in der Problemzone seiner Partei | ABC-Z
Der Bundeskanzler kommt zum Bürgergespräch nach Westsachsen. Zu den „ganz normalen Leuten“, wie es bei der SDP heißt. 200 dieser Leute wollen vor allem Selfies und wissen, wie es weitergeht. Am interessantesten ist allerdings weniger, worüber Olaf Scholz reden möchte – sondern worüber lieber nicht.
Es gibt sicher Momente, in denen sich Olaf Scholz danach sehnt, für ein paar Stunden aus dem Kanzleramt zu kommen, dem Berliner Politikbetrieb, der oft genug ein Haifischbecken ist, zu entgehen. Der Wahlkampf bietet dem SPD-Bundeskanzler nun genug Möglichkeiten dazu. 70 Termine wird Scholz bis zur Bundestagswahl am 23. Februar absolviert haben, darunter viele Gesprächsrunden im ganzen Land, mit „den ganz normal Leuten“, wie es in den Planungspapieren der Partei heißt. Stolz wird drauf verwiesen, dass der Kanzler dann „voraussichtlich 10.000 Selfie gemacht haben wird“. Handy-Schnappschüsse als politische Währung.
Dienstagabend ist Scholz in Chemnitz, bei den „ganz normalen Leuten“. Die sind ins Luxor gekommen, einem Veranstaltungszentrum in Herzen der Stadt, das in den rund hundert Jahren seines Bestehens einige Male Schauplatz historischer, politischer Momente war. Zu erleben ist dort diesmal ein Kanzler, der aller schlechten Umfragewerte zum Trotz nicht angegriffen, sondern angriffslustig wirkt, der offenbar – so scheint es – die Bundestagswahl noch lange nicht verloren gegeben hat. Und zu hören sind Bürger, deren Fragen angesichts der Lage im Land überraschen. Genau wie die Antworten, die Scholz gibt. Will der Kanzler wirklich mit diesen Rezepten die aktuellen Herausforderungen meistern?
Der Mann, der den Kanzler an diesem Abend ins Luxor geholt hat, ist 60 Jahre alt, wurde geboren, als seine Heimatstadt noch Karl-Marx-Stadt hieß und hat Lokomotivführer gelernt. Nach der Wiedervereinigung hatte sich Detlef Müller in der Kommunalpolitik nach oben gearbeitet, inzwischen ist er stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag. Müller hatte bei der Bundestagswahl 2021 im Wahlkreis Chemnitz das Direktmandat geholt, das einzige für die Partei in Sachsen. Wenn er dem Kanzler einen Termin vor Ort vorschlägt, kommt der. Dreimal war Scholz als Kanzler schon ich Chemnitz. Nötig ist es.
In Wahlumfragen erreicht die SPD bundesweit derzeit 15 bis 16 Prozent, Platz drei nach der Union und der AfD. In Sachsen liegt sie bei Umfragen vor Bundestagswahlen in aller Regel zehn Prozent unter dem Bundesdurchschnitt. In Chemnitz, der alten Arbeiterstadt, ist das Verhältnis etwas besser, aber bei der Landtagswahl im vergangenen Jahr hat die CDU dennoch alle drei Wahlkreise in der Stadt gewonnen. Auf Platz zwei landete die AfD. Chemnitz ist, wie Sachsen ohnehin, in den vergangenen Jahren zur Problemzone für die SPD geworden. Dort soll Olaf Scholz nun erklären, wie er die Bundestagswahl gewinnen will. Wenn es in Chemnitz funktioniert, müsste es überall funktionieren.
„Alle anderen können das auch“
Natürlich ist auch an diesem Abend das Publikum der Reihe „Olaf Scholz im Gespräch“ überwiegend gewogen. AfD-Wähler und Ampel-Kritiker werden sich nicht ins Luxor aufgemacht haben. 250 Leute sind im Saal, 300 wären gerne gekommen. Vor dem roten Samtvorhängen stehen rote SPD-Plakate mit dem Aufdruck „Besser für Deutschland“. Davor steht der Bundeskanzler. Er lächelt. Eine Frau meint, dass sie als Sozialdemokratin ja Olaf sagen könne. „Alle anderen können das auch“, antwortet Scholz jovial. Wohlfühlstimmung durchdringt den Saal. CDU-Chef Friedrich Merz käme nie auf eine solche Antwort.
Beobachter, die Scholz bei Kongressen in den vergangenen Wochen erlebt haben, sprechen davon, einen müden, fahrigen Mann erlebt zu haben. An diesem Dienstagabend ist der Kanzler nichts davon. Scholz ist hellwach, sofort auf Betriebstemperatur. Und als Erstes legt er eine falsche Fährte. „Wir müssen im Februar wählen, nicht erst im September“, sagt er. „Denn es gibt ein paar Dinge, die entschieden werden müssen.“ Die Wahrheit ist: Olaf Scholz wollte den Termin für Neuwahlen so weit nach hinten verschieben wie nur möglich. Das Publikum nimmt es hin, aber noch hat er es nicht gewonnen.
Warum er denn erst die Vertrauensfrage stelle und dann erneut kandidiere, will ein junger Mann wissen. Und dann tut Scholz, was er den ganzen Abend über tun wird: Er doziert über das Grundsätzliche, nämlich das Verfahren zur Auflösung des Bundestags. Er bleibt im Unkonkreten. Er weicht aus. Daneben wirkt der Slogan Angela Merkels in ihrer Spätphase „Sie kennen mich“ fast schon wie ein fein ausgearbeitetes Programm.
Interessant ist, über was Olaf Scholz in Chemnitz nicht spricht: über Ostdeutschland und die besonderen Herausforderungen dort. Über die politischen Gegner nicht. Der Kanzler attackiert weder den Unionskanzlerkandidaten Merz noch die AfD. Über den Bald-US-Präsidenten Donald Trump, der Deutschland noch viel Ärger bereiten kann, nicht. Er spricht die Probleme bei der Zuwanderung nicht an. Er skizziert keine Lösungen für die schwächelnde Wirtschaft, beziehungsweise nur im ganz Allgemeinen. Da ist kein Konzept, kein Plan für Deutschland, zumindest keiner, der an diesem Abend Gestalt annimmt. Der Kurs von Olaf Scholz wäre im Fall eines Wahlsiegs ganz offenbar ein Weiter-so.
Nun wird der Kanzler an diesem Abend auch nicht wirklich gefordert. Die Leute auf den Stuhlreihen wollen wissen, wie viel Unterstützung die Ukraine noch bekommt und wer und was eigentlich Deutschland schützt im Falle eines Angriffs. Scholz kann auf die umfassende Unterstützung der Ukraine verweisen und erklären, dass der Verteidigungsminister alles im Griff habe. Die Menschen bewegt, ob Frauen, die mit Frauen leben, in diesem Land sicher sind, ob „eine Reform des Bildungsföderalismus“ (Schulen sind Ländersache) sinnvoll sei. Sie haben so allgemeine Fragen zur Rente, Infrastrukturfinanzierung oder dem „Profil der SPD“, dass Scholz noch allgemeiner antworten und zurückfragen kann: „Wie viel Zeit haben wir dafür?“
Konkret wird Scholz nur in drei Punkten: Erstens spricht er sich strikt gegen eine weitere Anhebung des Renteneintrittsalters aus. Was allerdings nicht mal die Union fordert. Zweitens, dass er die Schuldenbremse, so wie sie derzeit ist, für ein Investitionshemmnis hält. Was bekannt ist. Wobei interessant ist, dass der Kanzler zum einen einräumt, selbst dabei gewesen zu sein, als die „Schuldenbremse damals gebastelt wurde“ und dass sie „klug verbessert, nicht abgeschafft werden soll“. Das klang in der SPD schon mal schärfer.
Zuletzt gesteht der Kanzler in der Wirtschaftspolitik zu, dass man den Menschen „nicht vorschreiben kann, welche Autos sie kaufen“ – Elektro oder Verbrenner. „Das können wir nicht von Staats wegen beschließen“, so Scholz. Es war allerdings die SPD, die sich für ein Verbrennerverbot auf EU-Ebene eingesetzt hatte, was de facto eine Vorschrift ist, welche Fahrzeuge die Menschen in Zukunft kaufen können.
Dass die Besucher des Abends erst am Ende auf zwei der wohl größten Herausforderungen in der Region kommen, die Entwicklung der Wirtschaft – Chemnitz und Umgebung sind wichtige Standorte der Autoindustrie – und das massive Anwachsen der AfD, verwundert. Scholz’ Antwort auf Letztes lautet: Nirgendwo im Land habe eine Mehrheit der Wähler für die AfD gestimmt. Man müsse trotz der globalen Umwälzungen den Optimismus bewahren, den Glauben an eine gute Zukunft. „Im 19. Jahrhundert, als die SPD gegründet worden ist, ging es den Leuten, die das getan haben so dreckig, dass wir uns das gar nicht vorstellen können. Aber die haben nicht den eigenen Nachbarn gehasst.“ Auch dazu gibt es lebhaften Applaus. Und dann wollen wieder fast alle ein Selfie mit Olaf.