Wie erzieht man Kinder mit starkem Willen? | ABC-Z

Nein heißt Nein – diese drei Wörter hielt ich in der Reihenfolge jahrelang für eine Errungenschaft. 2016 hatte die damalige Bundesregierung sexuelle Belästigung mit dieser einfachen Botschaft markiert. Auch meine Tochter hält „Nein heißt Nein“ für eine Errungenschaft. Sie verwendet den Ausdruck, wenn sie zum Rausgehen bei Regen keine Regenjacke anziehen will. Oder den Spielplatz nicht verlassen möchte. Oder auf gesundes Essen keinen Appetit hat. Nein. Heißt. Nein. Kann offenbar auch Anwendung in banalen Momenten finden, in denen ein Kindergartenkind und die erziehungsberechtigte Mutter nicht übereinkommen.
Aber was bedeutet das heute, erziehungsberechtigt zu sein? Zwischen einer strengen, autoritären Erziehung und dem toleranten, permissiven Modell liegen Welten. Wie wohl die meisten Elternteile in Deutschland sortiere ich mich irgendwo dazwischen ein. Versuche meinen zwei Kindern auf Augenhöhe zu begegnen und entscheide abhängig vom Einzelfall für ein Ja oder Nein. Allerdings weiß ich, dass mein Nein selten das Ende der Diskussion ist. Dass irgendwann ihr „Nein heißt Nein“ kommt. Oder „Ich will, wie ich will.“ Oder „Jeder ist ein eigenständiger Mensch und kann frei über sich entscheiden.“ Oder Brüllen.
Wo setze ich Grenzen?
Der Fluch des autoritativen Mittelwegs: Was kann ich erlauben, und wo setze ich Grenzen? Wie viel eigenen Kopf kann ich meinen Kindern zutrauen, und wann sind ihre Köpfe einfach noch zu klein? Sage ich zu häufig Nein, beispielsweise zu Gummibärchen oder Fake-Haarsträhnen, habe ich Sorge, dass sie das Verbotene umso mehr wollen und sich, wenn sie groß sind, mit Süßkram vollstopfen oder die Haare färben. Sage ich zu häufig Ja, befürchte ich, dass das Gleiche passiert.
Ich möchte herausfinden, wie Kindererziehung heute geht. Denn bislang weiß ich nur, womit ich nicht zurechtkomme: Da ist am autoritären Ende zum Beispiel der Bekannte, der sich aus dem Kühlschrank einen Joghurt holt und seiner Zweijährigen nichts abgibt, weil gerade keine Kinderessenszeit ist. Und da ist auf der permissiven Seite die Frau mit ihrer Tochter, denen wir öfter auf dem Markt begegnen. Beim Bäcker stand sie neulich vor mir. Was die Tochter zum Frühstück essen wolle? Kuchen? Okay! Direkt auf die Hand.
Beide gewichten Pflicht- und Freiheitsbewusstsein sicher unterschiedlich. Respekt vor diesen Wesen, denen sie die Welt vermitteln sollen, dürften beide haben. Deshalb verhalten sie sich ja so. Und deshalb frage auch ich mich, wie die Sache mit dem Erziehen gelingt.
Früher gab es eine gewisse Angst vor dem Kind
Schon unzählige Generationen vor uns stritten über Richtig und Falsch. „Auch vormoderne Gesellschaften haben die Frage der Kindererziehung verhandelt“, sagt Sebastian Engelmann, der sich als Juniorprofessor für Erziehungswissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe mit historischen Zusammenhängen auskennt. Kinder gab es schließlich schon immer. „Und damit Erwachsene, die das in der langen Menschheitsgeschichte immer intensiver ausdiskutierten. Das zeigen uns schon Quellen wie Steintafeln und antike Schriftstücke.“ Aber die Ansprüche an ein Kind, was es können muss und wie es sich in der Welt zu bewegen hat, die haben sich verändert. „Wenn wir beide im 16. Jahrhundert über Kinder geredet hätten, dann wäre es darum gegangen, wie wir sie schnell arbeitsfähig und auf der Scholle einsatzbereit bekommen.“
Lange Zeit hielten Erwachsene Kinder für ein wenig dubios. „Man wusste nicht so recht, ob sie vor Gott gerechtfertigt oder kleine Sünder sind“, sagt Engelmann. „Man betrachtete sie noch nicht entwicklungspsychologisch, und auch das Wissen der heutigen Psychologie gab es noch nicht.“ Bis ins 18. Jahrhundert gab es eine gewisse Angst vor dem Kind. Jean-Jacques Rousseau, der das Zeitalter der Aufklärung mitbegründete, formulierte ein positives Bild: dass Kinder noch nicht zivilisiert sein müssen; dass sie erst einmal gut sind, wie sie sind.

Rousseau etablierte eine freiheitlichere Vorstellung von Erziehung, aber auch das Ideal der absoluten Kontrolle blieb. „Beide Stile waren immer auf eine Art da“, sagt Engelmann, „aber die Verteilung war variabel“, je nach dem wo sich eine Gesellschaft gerade verortete. Beispielhaft sieht man es an den Diskussionen um Erziehung in der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Freiheitlichere Methoden in der Weimarer Republik und von den Sechzigern an, dazwischen das strenge Regelwerk „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ von Johanna Haarer, die im Nationalsozialismus die Erziehung prägte. In überarbeiteter Form definierte das Buch allerdings bis in die Achtzigerjahre, wie mit Kindern umzugehen war.
Mit der zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft ergab sich zum autoritären und antiautoritären Modell ein drittes Konzept: die autoritative Erziehung. Mit Beginn der Nullerjahre hatte sich das durchgesetzt, sagt Engelmann. „In einer Umfrage gaben damals die meisten befragten Eltern an, einem demokratischen Erziehungsmodell zu folgen. Daraus schließe ich, dass sie ein positives Verhältnis zu Kontrolle haben und das nicht im Sinne von Einschränkung betrachten, sondern im Sinne von Sicherheit.“ Darum gehe es beim autoritativen Modell: gemeinsam mit den Kindern Strukturen zu erarbeiten. Die Kinder zur Partizipation zu ermutigen. 35 Jahre nachdem die Vereinten Nationen die Kinderrechte verabschiedet haben, sei angekommen, dass es Beteiligungsrechte gibt. „Das geht dann auch so weit, dass ich ein Kleinkind frage, ob es gewickelt werden möchte“, sagt Engelmann. „Wenn Sie Kinderrechte ernst nehmen, ist das nämlich das Recht des Kindes.“
Erwartung, Enttäuschung, Überforderung
Mir ist klar, dass es nicht Sinn der Sache sein kann, ein Kind bei einem Nein nicht zu wickeln. Stattdessen soll man das Kind dabei unterstützen, selbst zu spüren, dass es Zeit ist, gewickelt zu werden. So aufreibend kann Kindererziehung auf Augenhöhe manchmal sein. Die beliebten Ratgeber bringen das, was daraus folgt, schon mit ihren Titelzeilen auf den Punkt: Erwartung, Enttäuschung, Überforderung. „Das Buch, von dem du dir wünschtest, deine Eltern hätten es gelesen (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast)“ von Philippa Perry. „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn“ von Danielle Graf und Katja Seide. „Das glücklichste Kleinkind der Welt“ von Harvey Karp. Eine Freundin hatte mit der Harvey-Karp-Methode gute Ergebnisse erzielt: Zum Kleinkind hocken, seine Sprache imitieren, warten, bis die Verbindung steht. Meine Tochter rannte in ihrer Trotzphase einfach davon.
Es ist schön, dass in individualisierten Zeiten jeder lebt, wie er leben möchte. Gerade deshalb tickt auch jede Familie ein bisschen anders. Erziehung macht das schwieriger. Eltern, insbesondere Mütter, die trotz aller Väter-Emanzipation noch immer öfter auf Spielplätzen und Kitafluren stehen, play dates und Elternabende wahrnehmen, können daher wunderbar über andere Mütter tratschen. Irgendetwas macht die andere immer anders, also falsch. „Das musst du unterbinden“, sagte mir neulich eine Freundin, die das alles hinter sich hat, als ich erzählte, dass meine Kinder in ihren Betten einschlafen, aber im Elternbett aufwachen.

Zur dazugewonnenen Freiheit gehört auch, dass wir Erwachsenen heute Fehlentscheidungen zugeben und unseren Kindern sagen können, dass es uns leidtut. Und entsprechend handeln: Noch mal Kisten packen, wenn der Umzug von der Stadt aufs Land falsch war. Oder uns als Paar trennen. Uns eventuell eingestehen, lesbisch oder schwul zu sein. „Gerade Eltern von jüngeren Kindern sind nicht mehr mit der Werteklarheit von früher aufgewachsen“, sagt Engelmann. „In der Nachkriegszeit hatten die Kinder bitte das zu tun, was den Werten der Eltern entspricht. Da ging es nicht darum, etwas auszuprobieren. Das änderte sich nur langsam.“ Spätestens mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Engelmann sagt: „Ich bin mir ja selbst häufig nicht klar, ob dieses Handeln richtig oder falsch ist.“
Auch das verändert den Blick auf Kinder – und den Blick der Kinder auf Erwachsene. Umso mehr beeindrucken mich Eltern, die bei Konflikten besonnen bleiben, sich zu ihrem Kind hinunterknien. Die ihm tief in die Augen schauen. In ruhigem Ton Fragen stellen und Hintergründe erklären.
Zwei Verhaltenssysteme sind entscheidend
Wie machen die das? Ein Anruf bei der Bindungsforscherin Fabienne Becker-Stoll. Die Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik und Medienkompetenz ist für viele Eltern der Polarstern für die Navigation durch die Kindheitsjahre. Um zu verstehen, warum Kinder reagieren, wie sie eben reagieren, müsse man die zwei Verhaltenssysteme kennen, die jedes Kind hat: das Bindungswarnsystem und das Explorationswarnsystem. „Stellen Sie sich vor, Ihr Kind fährt mit dem Fahrrad einen Berg hinunter“, sagt die Professorin. „Die Aufgabe der Bindungsperson ist Ermutigen, aber auch Aufpassen. Das Kind weiß nicht, dass am Ende ein Lastwagen um die Ecke kommen kann. Ihr Kind ist jetzt im Explorationsmodus. Auf einmal fällt es. Es erschreckt sich, brüllt los. In dem Moment geht das Explorationsverhalten runter, und es geht nur noch um das Bindungsverhalten.“ Umarmen, trösten. „In dem Moment können Sie ihm nichts erklären.“ Wenn das Kind im Explorationsverhalten ist, sei das aber ein guter Moment, und das „Nein heißt Nein“ zur Regenjacke ist so ein Fall. Wahrscheinlich hat meine Tochter den Satz im Kindergarten aufgeschnappt. Jetzt probiert sie aus, wie ich reagiere. „Ich bin sehr dafür, den Kindern eine Chance zu geben, selbst zu spüren“, sagt Becker-Stoll. Also mit dem Kind ohne Regenjacke loslaufen, das Teil einpacken. „Wenn es in Strömen regnet, wird es schnell d’accord sein“, sagt Becker-Stoll.
Mich kostet das Überwindung, weil ich an die Konsequenzen denke, dass das Kind krank wird und wir dann zusehen müssen, wie wir den Alltag schaffen. Fabienne Becker-Stoll und Sebastian Engelmann sehen in solchen banalen Konfliktsituationen hingegen etwas Positives: Selbstwirksamkeit. „Dass die eigenen Handlungen Wirkung zeigen“, sagt Engelmann. „Damit verwöhnen Sie Ihr Kind nicht“, sagt auch Becker-Stoll. „Damit zeigen Sie ihm stattdessen etwas, was wir nicht lernen durften. Nämlich dass es seine Gefühle und Bedürfnisse spürt. Dass man etwas nicht möchte. Was für eine Kompetenz ist das denn!“
Mir fällt dazu ein Beispiel aus meiner Kindheit ein. Bei uns herrschte gewiss kein strenges Erziehungsdiktat. Wenn meine Schwester und ich allein badeten, hatte meine Mutter allerdings panische Angst, dass wir ertrinken könnten. Sie zog daher zum Ende den Stöpsel, hob meine jüngere Schwester aus dem Wasser, ging mit ihr zum Anziehen in ein anderes Zimmer und ließ mich in der Wanne. Der Pegelstand sank. Ich erinnere mich gut an das fröstelige Gefühl von damals. Trotzdem, ich habe das einfach so akzeptiert.
Wenn ich heute mit den Kindern allein bin – mache ich es genauso. Hole zuerst meinen jüngeren Sohn raus, ziehe den Stöpsel, während meine ältere Tochter kurz auf dem Trockenen sitzen muss. Es dauerte neulich keine zwei Minuten, bis es aus dem Bad bis ins Kinderzimmer schallte: Meiner Tochter war kalt. Als ich ihr später erklärte, dass es mir früher auch so ging, fragte sie, warum ich als Kind nicht einfach selbst aus der Wanne geklettert sei.
Vom Klettern abgeraten habe ich ihr natürlich. Ausrutschen, Gehirnerschütterung, Krankenhaus. Hatten wir alles schon. Aber eigentlich sollte ich mich über ihre Idee freuen. „Der große Superwert in der Kindererziehung ist Ehrlichkeit“, sagt Engelmann. „Das ist besonders vielen Eltern wichtig. Dahinter folgt irgendwann die Selbständigkeit, am Ende Kritikfähigkeit. Wenn ich aber tief in mich hineinhöre, möchte ich, dass Kinder vor allem selbständig sind, um sich in der immer komplexeren Welt zurechtzufinden.“ Auch deshalb sollte man Kinder ausprobieren lassen. „Im Standardmilieu der BRD hätte es vor 60 Jahren auf die Frage der Regenjacke geheißen, die Regenjacke wird angezogen, weil es draußen regnet“, sagt Engelmann. „Bei einer Rückfrage wäre vielleicht noch ein: ,Weil ich dir das sage‘, gekommen. Das war in vielen Fällen das Ende der Kommunikation.“
Ich habe neulich trotzdem versucht, meiner Tochter zu erklären, dass „Nein heißt Nein“ ein Alarmzeichen für Notsituationen ist. Und man es entwertet, wenn man es ständig ruft. Seitdem habe ich es nicht mehr gehört. „Nein“ allerdings jeden Tag.