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Französische Cellomusik beim Palazzetto BruZane | ABC-Z

Gute Nachrichten für die Cello-Community: Ihre Repertoiresorgen dürften sich in absehbarer Zeit mindestens halbieren. Ein Riesengeschenkpaket mit französischer Cello-Literatur erwartet sie in einer neuen Anthologie des Palazzetto Bru Zane, des Zentrums für die Erforschung französischer Musik der Romantik mit Sitz in Venedig. Wer auch nur einen oberflächlichen Eindruck davon hat, was dieses Institut in den fünfzehn Jahren seines Bestehens an unbekannter Musik entdeckt, ediert, aufgeführt und eingespielt hat, wie viele Komponisten und vor allem Komponistinnen es aus der Versenkung geholt und auch durch Buchveröffentlichungen und Konferenzen dem Publikum näher gebracht hat, kann ermessen, wie gründlich diese Cello-Anthologie vorbereitet wird.

Wie lange auch die Vorlaufzeit vom Aufspüren der Noten, meistens als Manuskript und in Einzelstimmen, bis zur CD-Einspielung dauert. Und wer bisher geglaubt hat, die Hauptaufgabe des Palazzetto läge in erster Linie in der Erweiterung des französischen Opernrepertoires, muss sich korrigieren lassen, denn Orchester- und Kammermusik nehmen einen stolzen Platz ein, vor allem in Venedig, wo im eigenen Veranstaltungssaal des Palazzetto regelmäßig Kammerkonzerte stattfinden.

Neu ist allerdings die Fokussierung auf ein einzelnes Instrument. Alexandre Dratwicki, künstlerischer Leiter des Palazzetto, erklärt auch, warum: das Cello habe in der Romantik zwischen Violine und Klavier das aufregendste Repertoire. Dieses publik zu machen, ist sein Langstreckenziel, und schon sprudelt es aus ihm heraus, wie viele Werke für Cello und Orchester (erst)aufgeführt werden müssen – von Guy Ropartz, Théodore Dubois, André Caplet, Juliette Folville, Emmanuel Rhené-Baton, Guillaume Lekeu. Allein zweihundert unbekannte Cello-Sonaten seien im Zuge der Recherchearbeiten aufgetaucht. Und nie sei die Anfrage nach einem Werk so groß gewesen, wie nach der Aufnahme der wiederentdeckten, umwerfenden Cello-Sonate „Titus et Bérénice“ von Rita Strohl, ergänzt Etienne Jardin, der Leiter der Forschungsabteilung. Edgar Moreau und David Kadouch spielten diese symphonische Dichtung im Duo-Format nach dem gleichnamigen Schauspiel von Jean Racine schon 2016 ein: ein Originalwerk von 1892, das die Cello-Gemeinde in die großzügige Lage versetzt, die adaptierte Violinsonate von César Franck wieder allein den Geigern zu überlassen.

Ähnliches Interesse habe Jardin bei einem anderen Cellowerk erlebt, erzählt er weiter, nach der Einspielung des alle Konventionen sprengenden Cello-Konzerts von Marie Jaëll mit Xavier Phillips und der Philharmonie Brüssel unter Hervé Niquet. Jardin zieht daraus den Schluss, dass die Cellisten unter den Instrumentalisten wohl die neugierigsten und verantwortungsbewusstesten gegenüber neuem Repertoire sind – was die Akzeptanz dieser beiden Werke nur bestätigt.

Wie viele Komponistinnen für dieses Instrument schrieben

Der Solist des Jaëll-Konzerts bestritt dann auch zusammen mit seiner Pro­fessorenkollegin aus Lyon, Anne ­Gastinel, und zwei Meisterstudenten einen Abend zwischen religiöser Andacht und konzertanter Bravour während des ­kleinen Festivals „Passione Violoncello“ in Venedig. Und wieder war es eine Komponistin, Hélène-Frédérique de Faye-Jozin, die mit ihrer Bewunderung für die „heilige“ Natur des Waldes alle Sympathien auf sich versammelte. Es ist schon auffallend, wie viele Komponistinnen für Violoncello und Flöte ­schrieben, obwohl sie diese Instrumente aus Schicklichkeit gar nicht spielen durften.

Doch eine Französin setzte sich auch darüber hinweg, trat in wallenden Kleidern auf und ging sogar mit ihrem Cellokasten auf Tournee: Lise Cristiani, der Felix Mendelssohn nach ihrem Gastspiel in Leipzig sein „Lied ohne Worte“ op. 109 widmete. Ihre Abenteuerlust und Existenznot führten sie bis nach ­Sibirien und den Nordkaukasus, wo sie im Alter von nur 26 Jahren an der ­Cholera starb. Ihr Stradivari-Instrument überlebte. Sie gehörte der zweiten Phase des romantischen Cellos an, in der Genrestücke, Meditationen, Elegien, Nocturnes, Fantasien über Opern­themen oder Bearbeitungen auf den Programmen standen. Auguste Franchomme etwa, für den Frédéric Chopin seine Cello-Sonate geschrieben hatte, transkribierte seinerseits drei Präludien aus dessen Opus 28 für vier Violoncelli. Sie wurden in Venedig ebenso aufgeführt wie seine Romanze für Violoncello und Streichquartett op. 10, ein klanglich sehr ansprechendes Stück mit singendem Solocello im consortartigen Dunkelklang.

Angefangen hatte die Laufbahn des Cellos in Frankreich viel später als in Italien und Deutschland, erst 1795 mit der Gründung des Pariser Konservatoriums. Gegenüber der Gambe hatte es lange Zeit keine Chance. 1802 wurde Charles-Nicolas Baudiot, erster Cellist der Pariser Oper, Professor am Konservatorium und verfasste zusammen mit seinem Geigenkollegen Pierre Baillot das erste Lehrwerk für Violoncello, die „Méthode violoncelle du Conservatoire“, dem noch zwei weitere folgen sollten. Welcher Tradition er sich kompositorisch verpflichtet fühlte, geht schon aus dem Titel des in Venedig wohl erstmals wieder aufgeführten Werks hervor: Quintett für zwei Violoncelli op. 34 Nr. 1. In Paris deutet diese Besetzung nicht auf Franz Schubert, sondern auf Luigi Boccherini hin, der aufgrund seiner Präsenz beim Verlag Pleyel die kammermusikalische Hausmacht errang, auch wenn er nur einmal in Paris war, bevor er sich in Spanien niederließ.

Wie die Wiener Klassik nach Paris kam

Noch nach seinem Tod 1805 erschienen in Paris Erstdrucke, und das Verlagshaus Janet und Cotelle druckte 1822 eine Gesamtausgabe aller seiner bisher erschienenen 93 Streichquintette. Man konnte ihnen also kaum entkommen, zumal als Cellist. Dass Boccherini aber zum „Modell“ der französischen Kammermusik werden konnte, wie Etienne Jardin sagt, hängt auch mit der Konzertpraxis zusammen. Entgegen der weit verbreiteten Meinung, in Frankreich habe es in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts so gut wie keine Kammermusik gegeben, wird sie 1814 mit den Quartettakademien von Baillot fest etabliert. Da werden nicht nur Boccherinis Werke aufgeführt, sondern auch die Quintette eines anderen Großmeisters dieser Besetzung: George Onslow. Er hinterließ neben 36 Streichquartetten 34 Streichquintette und drei großartige Cellosonaten, die in Zusammenarbeit mit dem Palazzetto schon 2014 auf CD erschienen sind.

Onslow wiederum, selbst Cellist, bringt in seinen Werken die Wiener Klassik, insbesondere Beethoven, nach Paris, gilt sogar als der französische Beethoven. Und mit diesen italienisch-spanisch-deutsch-österreichisch-französischen Paten gesegnet, wird das Violoncello das Instrument der Zukunft – europäisch.

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