Ukraine-Krieg: „Sie schreiben ‚russland‘ und ‚putin‘ klein – als Zeichen der Verachtung“ | ABC-Z
Unser Autor erlebt eine wachsende Abneigung gegen alles Russische. Darunter ein Boykott der Schriftsteller, Komponisten und der Regeln der Orthografie. Nach bald drei Jahren Krieg in der Ukraine ist das ein Ausdruck hilfloser Wut. Die macht sogar vor Suppen nicht halt.
Dass man sich wegen einer Suppe verkrachen kann, hätte ich nicht gedacht. Aber gewundert habe ich mich dann auch nicht: Im dritten Jahr des absurden russisch-ukrainischen Krieges ist nichts mehr zu absurd. Neulich war ein ukrainischer Freund bei mir in Berlin zu Besuch, angereist aus seinem Exil in einem osteuropäischen Land.
Nach über einem Jahr unter Bombardements in Kiew, wollte er etwas richtig Schönes erleben. Er wollte unbedingt ins Hotel Adlon, zum Kaffee und Kuchen, denn für ihn war es die Erinnerung an die guten, alten Zeiten, als er einen lukrativen Job hatte und als man aus Kiew nach Berlin fliegen konnte und nicht fliehen musste.
Er wollte in die Sorglosigkeit eines Fünf-Sterne-Hotels, samt Klaviermusik in der Lobby und Cappuccino-Preisen im zweistelligen Bereich. Auf dem Weg dahin kam unser Small Talk auf das Thema Heimweh. Ich erzählte ihm, wie sehr ich russische Suppen vermisse, diese etwas deftigere Hausmannskost, die nach Heimat riecht und schmeckt.
Denn, bei allem Respekt der modernen deutschen Küche gegenüber, kann ich mit dem pürierten Zucchini, meinem Sinnbild der hiesigen „Suppenkultur“, wenig anfangen. Eigentlich gar nichts.
Doch als mein Freund die Wörter „russisch“ und „Suppen“ hörte, schaltete er auf Angriff. Und aus einer zwang- und belanglosen Plauderei wurde ein politisches Streitgespräch. Er fragte, welche Suppen ich denn bitte schön für „russisch“ halte. Und als ich ein paar gängige Gerichte aufzählte, explodierte er fast mit einer flammenden Rede gegen den russischen Imperialismus und kulturelle Aneignung. Denn: Alle – oder fast alle – Suppen der russischen Küche sind gar nicht russisch, sagte er.
Alles nur geklaut! Übernommen, angeeignet aus den Nachbarländern, die jahrhundertelang die Arroganz des russischen Imperialismus ertragen mussten.
Die kalte Rote-Bete-Joghurt-Suppe, der große Sommerhit? Kommt aus Litauen.
Der stark gewürzte würzige, scharfe Chartscho? Eine georgische Erfindung.
Die Rindfleischbrühe mit Grießklößen? Deutsch.
Und dann natürlich Borschtsch, das weltberühmte Rote-Bete-Gemüse Eintopf, der osteuropäische Klassiker? Ukrainisch. Oder vielleicht polnisch. Aber russisch? Auf keinen Fall!
„Es gibt keine russischen Suppen. Alles, was du gern isst, kommt aus dem Ausland“, sagte der Ukrainer. Ich blieb stumm, wie ich das immer bleibe, in Momenten der akuten Konfrontation mit politisch motiviertem Quatsch. Im ersten Moment fand ich das sogar amüsant, diese Ausweitung der Kampfzone auf die Suppentöpfe.
Dann merkte ich aber, dass mein ukrainischer Freund überhaupt nicht lächelte, er meinte das tierisch ernst. Spätestens in diesem Moment wusste ich, wie weit diese kulturelle „Entrussifizierung“ der Ukraine fortgeschritten ist. Eine „Entrussifizierung“, die hier im Westen als eine Erfindung der russischen Propaganda gilt, als eine Schimäre zur Begründung der militärischen Invasion in das schöne, arme Land.
Es hat uns beide ein paar Minuten konzentrierten Schweigens gekostet, um das Thema Suppen nicht zu vertiefen und dadurch einen großen Streit zu vermeiden. Den Streit darüber nämlich, was sich Russisch nennen darf, wo das eine endet und das andere anfängt, denn seit einer ganzen Weile bewegten sich die russisch-ukrainischen Beziehungen im Bereich eines Nullsummenspiels, wo es nur einen Gewinner geben kann und wo man deswegen zwangsläufig mit allen in Konflikte tritt.
Zwischen Russland und der Ukraine tobt mehr als ein Krieg. Es ist auch ein Streit über die Deutungshoheit der einst gemeinsamen Geschichte, eine Art blutiger Rosenkrieg nach einer krachend gescheiterten Ehe, wo es nicht um zwei Partner geht, sondern um zwei Nationen. Allein das Verbot der russisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats in der Ukraine war, unabhängig von seinen Ursachen und Gründen, ein tiefer Einschnitt.
Der Riss zwischen Russland und der Ukraine verläuft auf vielen, ganz vielen Ebenen. Und während im Fernsehen Militärexperten tagtäglich Reichweiten von Waffensystemen analysieren, mit denen sich die Nachfahren von Leo Tolstoi und Taras Schewtschenko gegenseitig umbringen, wenden sich die Ukrainer in Scharen von allem ab, was russisch klingt oder aussieht. Es ist eine kulturelle Trennung, die ihresgleichen in der Geschichte sucht.
In diesem Kulturkrieg wird selbst Suppe zur Waffe. Kein Scherz: Im Sommer 2022 setzte die Unesco „die ukrainische Kultur des Borschtsch-Kochens“ auf die Liste der dringend zu schützenden immateriellen Kulturerbe mit der Begründung, der russische Überfall bedrohe die Borschtsch-Tradition. Der ukrainische Kulturminister twitterte damals von einem „Sieg im Borschtsch-Krieg“, das russische Außenministerium spottete über die ukrainische Komplexe, die ruhigen deutschen Kommentatoren warnten davor, aus einem deftigen Eintopf eine „identitäre Waffe“ zu machen.
Russische Bücher werden entsorgt
Es wäre alles so lustig, wenn es nicht so traurig wäre, besagt ein altes russisches Sprichwort. Denn es ist viel mehr als ein Suppen-Streit, es geht ums Ganze. In der westukrainischen Stadt Luzk wurde an einem Tag im November 2022 eine Tonne russischer Bücher gesammelt und entsorgt, die Aktion lief unter dem Motto „Russische Literatur ins Altpapier“, sie fand bereits zum dritten Mal statt und sollte helfen, die „Köpfe von russischen Narrativen zu befreien“, sagten die Initiatoren. Die Bücher würden zu Klopapier verarbeitet, hieß es.
Im selben Jahr hat das ukrainische Parlament das Abspielen der russischen Musik in der Öffentlichkeit und Einfuhr von russischen Büchern untersagt. Ein speziell gegründeter Sachverständigenrat sollte Bücher auf die „antiukrainische Rhetorik“ überprüfen. In Schulen wurde Russisch von Lehrplänen gestrichen. Und immer mehr Menschen weigerten sich, Russisch zu sprechen, und das in einem Land, das zur Stunde seiner Unabhängigkeitserklärung 1991 de facto zweisprachig war.
Ich erinnere mich, wie noch vor dem Krieg, im Frühjahr 2022, manche ukrainische Filmemacher bei der Berlinale sich weigerten, Interviews auf Russisch zu führen. Obwohl sie die Sprache perfekt beherrschten. Ich habe niemals verstanden, warum man die Sprache und die Menschen, die sie sprechen, pauschal boykottieren kann, ohne zu wissen, wie sie denken und wo sie stehen.
Wenige Monate später brachte es der damalige ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, auf den Punkt. Er schlug eine Einladung zum Friedenskonzert beim Bundespräsidenten aus, weil auf dem Programm auch Werke russischer Komponisten waren. Solange die „russischen Bomben auf die ukrainischen Städte fallen und Tausende Zivilisten sterben, haben wir, Ukrainer, keinen Bock auf die große russische Kultur“, twitterte der Botschafter damals.
Inzwischen wurde Melnyk aus Berlin abgezogen und nach Südamerika versetzt (Anm. d. Red.: Melnyk soll im kommenden Jahr neuer Vertreter der Ukraine bei den Vereinten Nationen in New York werden), von einer Normalisierung der Beziehungen sind wir immer weiter entfernt. Im Gegenteil: In der Stadt Iwano-Frankiwsk im Westen der Ukraine soll es demnächst sogenannte Sprach-Patrouillen geben, die zivilen Streifen sollen „die Verbreitung der russischen Sprache“ eindämmen. Wer auf der Straße Russisch spricht, soll dezent gebeten werden, ins Ukrainische zu wechseln.
Angeblich haben sich bereits Dutzende Freiwillige für diese Aufgabe gemeldet. Und die Stadt will eine Hotline einrichten, bei der sich die aufmerksamen Bürger melden können, wenn sie jemanden Russisch sprechen hören. Eine sonderbare Entscheidung für ein Land, das eigentlich eine EU-Mitgliedschaft anstrebt. Und manche ukrainische Medien schreiben sogar „russland“ und „putin“ klein, als Zeichen der Verachtung.
Es ist alles schwer zu verstehen, wenn man im satten und friedlichen Westen lebt, wo wir nicht einmal einen Bruchteil des Schmerzes und der Verzweiflung empfinden können, die in der Ukraine herrschen. „Wenn die Haubitzen sprechen, schweigen die Musen“, besagt ein anderes Sprichwort – ein Krieg ist eine denkbar schlechte Zeit für schöngeistige Diskussionen.
In der Lobbybar vom Hotel Adlon führte eine Kellnerin uns zum Tisch, und als wir Kaffee und Kuchen bestellten, setzte sich ein Mann im Anzug ans Klavier. Wir erkannten die Melodie nach den ersten Akkorden, schauten uns an – und hatten beide Tränen in den Augen. Es war der „Russische Walzer“ von Dimitri Schostakowitsch.
Im Oktober wollte mein ukrainischer Freund wieder zu Besuch kommen, ich schlug vor, nach Hamburg zu fahren, wo er noch nie war. Von der Idee, die Elbphilharmonie zu besuchen, war er begeistert. Bis ich sagte, was ich da hören will: Klavierkonzert Nr. 1 von Pjotr Tschaikowsky. „Auf gar keinen Fall“, sagte er. Jetzt suchen wir nach einem neuen Termin.
Vladimir Esipov ist Journalist und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm „Die russische Tragödie: Wie meine Heimat zum Feind der Freiheit wurde“.