Ein Begegnung mit Hanna Krall in Warschau | ABC-Z
Sie lebt immer noch in demselben Hochhaus in Ursynów, einem Viertel im Süden Warschaus, nach dem man in kommunistischen Zeiten im Dschungel ähnlicher Häuser verzweifelt suchte und das man heute sofort erreicht, sobald man die früher nicht vorhandene U-Bahn verlässt. Auch die sonstige Umgebung wirkt viel freundlicher als damals – ein Supermarkt direkt gegenüber, viele andere Geschäfte, eine kleine Grünanlage.
Im Haus selbst kommen einem aber sofort alte Erinnerungen: Sobald man aus dem Aufzug im sechsten Stock steigt und die paar Schritte bis zur Wohnungstür zurücklegt, gelangt man direkt in die Küche, wo man von einer nicht sehr großen Dame mit dunklen Haaren, wachen Augen und warmem Lächeln erwartet wird, die einen sofort in ein Zimmer führt und dort mit einem sehr starken Tee bewirtet. Das ist Hanna Krall.
Auch das Gespräch ist genau wie früher, lebhaft, voller Abschweifungen und Fragen, auf die sie mit Gegenfragen antwortet. Dass sie inzwischen fast neunzig ist, merkt man eigentlich nur an ihrem schlechten Gehör, auf das sie bei offizielleren Anlässen selbst hinweist: Sie sei zwar immer noch eine Reporterin, aber eine taube Reporterin, man solle bitte lauter sprechen, sagt sie dann ohne Umschweife.
Der Tod und der Krieg
An solchen Anlässen mangelt es ihr immer noch nicht. In diesem Herbst ist sie mit dem Promoten ihres, wie sie behauptet, letzten und wichtigsten Buches beschäftigt: des Bandes „Elf“, mit dem sie den Leser auf eine harte Probe stellt, denn er besteht nur aus kurzen Textfragmenten, in denen man ihre früheren Motive findet – den Holocaust, das Leben in Polen vor und nach dem Krieg, den Kommunismus, die Wende –, aber auch einiges über die Gegenwart: den Krieg in der Ukraine, den Anschlag auf das World Trade Center oder die Flüchtlingskrise an der polnisch-belarussischen Grenze. Und in dem sie mit ihrem Erzählstil dafür sorgt, dass fast alles und jeder, den sie hier ins Visier nimmt, ob die Helden ihrer alten Reportagen oder „die Menschen unterwegs“, wie sie beziehungsweise eine Freundin, die ihr von ihnen berichtet, die Flüchtlinge an der Ostgrenze nennt, ein Rätsel bleiben, dessen Lösung sie dem Leser überlässt.
Das gilt auch für ihr persönliches Erlebnis: Am 20. Februar 2022 starb ihr Mann, der Journalist und Autor Jerzy Szperkowicz, mit dem sie seit 62 Jahren verheiratet war, an Covid. Als Hanna Krall die Nachricht von seinem Tod bekam, wurde ihr klar, dass auch sie erkrankt sein könnte. Und ihr erster Gedanke war, sie müsse unbedingt bis zu seiner Beerdigung durchhalten, sie dürfe in dieser Zeit weder krank werden noch sterben.
Vier Tage nach dem Anruf aus dem Krankenhaus begann der Krieg in der Ukraine, und sie dachte wieder, hoffentlich komme er nicht bis zu ihr, denn das würde sie womöglich an der Beerdigung hindern. Der Krieg kam nicht, aber sie braucht seitdem nur nachzusehen, wie lange er schon dauert, um zu wissen, wie viele Tage seit dem Tod ihres Mannes vergangen sind. Die entsprechende Gleichung (287 + 4 = 291) zieht sich leitmotivisch durch das ganze Buch.
Wesentliche Details
Nach der Beerdigung stellte Krall sich eine weitere Aufgabe: zwei Bücher herauszugeben. Das letzte Buch ihres Mannes und ihr eigenes, das den Titel „Wesentliche Details“ trug und in dem sie Bilder aus der Vergangenheit und Porträts von Freunden mit Notizen über die Gegenwart verband. Sie fing mit dem eigenen an, weil es fast fertig war. Sein Titel überraschte nicht, denn Details waren ihr schon immer wichtig, sie entschieden oft darüber, ob sie eine Geschichte erzählen wollte oder nicht. Sie suchte nicht nach ihnen, sie tauchten von allein auf, aber sie erkannte es sofort, wenn es „die richtigen“ waren.
Wie der Pullover von Wiesia G., einer ihrer Protagonistinnen: Der Pullover war aus weicher marineblauer Wolle, und Wiesia bekam ihn während des Krieges von der Mutter eines jüdischen Mädchens, als Dank für das Geld, das sie von Wiesias Mutter bekam. Hanna Krall beschrieb diese Szene auf einer Krakauer Straße viele Male: Eine jüdische Mutter gibt einer polnischen Mutter den Pullover ihrer Tochter, weil sie keine Almosen will. Wiesia trug den Pullover den ganzen Krieg über. Nach dem Krieg wurde sie Hanna Kralls Redaktionskollegin. Im März 1968 protestierte sie während einer Sitzung lautstark gegen die antisemitische Hetze und verlor dadurch ihren Job. „In dem Moment dachte ich“, so Krall, „sie mache so viel Aufhebens, um dieses Mädchen zu verteidigen, das sie damals nicht verteidigen konnte.“ Der Pullover wurde zu einer Metapher.
„Ich kann nur eine einzelne Geschichte erzählen“
Unzählige solcher Geschichten hat sie erzählt, manche in voller Länge, manche nur ansatzweise, und jede bedeutete für sie ein weiteres Individuum, dem sie sein Gesicht wiedergab. Dass manche von ihnen kaum glaubwürdig erschien, dass sie den Leser oft mit offenen Fragen zurückließ, bekümmerte sie wenig. Sie wolle keine klaren Antworten geben, erklärte sie oft, sie wolle nur die Welt beschreiben. Und da die Welt kompliziert sei, solle man sie auch so darstellen: als ein Mosaik, das aus exakt zueinander passenden Steinen bestehe. Sie selbst blieb immer im Hintergrund, fällte keine Urteile, beschränkte sich nur darauf, ihr Anvertrautes wiederzugeben. „Ich kann nichts anderes“, sagte sie einmal. „Ich habe keine globale Vorstellungskraft. Ich kann immer nur eine einzelne Geschichte erzählen, dann die zweite, die dritte, die hundertste . . . Wenn ich es könnte, würde ich eine Milliarde solcher Geschichten erzählen.“ So viele sind es nicht geworden, aber mehrere Hundert bestimmt.
Acht Sammlungen von ihnen sind auch auf Deutsch erschienen, zuletzt, im Jahr 2012, die literarische Collage „Rosa Straußenfedern“. Danach ist es hierzulande still um Hanna Krall geworden – im Gegensatz zu Polen, wo in den letzten Jahren vier Bücher von ihr erschienen: Vor „Wesentliche Details“ gab es „Die Synapsen der Maria H.”, ein Buch, das ihr besonders am Herzen liegt. Sie schreibt über diese Frau seit vielen Jahren, immer wieder. „Maria H. war Mathematiklehrerin“, erzählt sie. „Sie saß im Gefängnis, weil sie Streikenden in einem Stahlwerk geholfen hatte. Dann ging sie in die USA und heiratete. Die Mutter ihres Mannes war eine Holocaustüberlebende. Sie befand sich schon auf dem Umschlagplatz, aber sie wurde von dort von einem jüdischen Polizisten gerettet. Und sie war am 11. September 2001 im World Trade Center, im Turm, in den das erste Flugzeug einschlug. Sie stieg 82 Stockwerke hinab, 1804 Stufen. Sie ging und dachte: Wenn es mir einmal gelungen ist, zu überleben, warum sollte es mir jetzt nicht auch gelingen? Sie erreichte den Ausgang und kroch unter einen Transporter. Sie hörte einen Knall. Es war der erste Turm, der einstürzte. Als sie unter dem Transporter hervorkam, hatte sie das Gefühl, als würde sie nach dem Ghettoaufstand in den Ruinen Warschaus herumlaufen.“
Ein Romane etablierte einen Begriff in der polnischen Sprache
Dann gab es noch eine Neuausgabe des Kurzromans „Die Untermieterin“ (2023), der vor vierzig Jahren durch die Zensur gestoppt wurde, den sein jetziger Verleger „eines der wichtigsten Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts“ nennt und der trotz Abwesenheit dafür sorgte, dass sich in der polnischen öffentlichen Sprache die heute besonders aktuelle Kategorie der „Untermiete“ etablierte – als Bezeichnung für ein „diskretes System sozialer Unterordnung“, wie es die Publizistin Joanna Tokarska-Bakir umschreibt.
Und nun „Elf“, ein Buch, in dem man Hanna Kralls Handschrift sofort wiedererkennt und dann doch wieder nicht. Das ist wichtig, denn diese Handschrift war ja ihr Markenzeichen; dieser ruhige, schnörkellose, manchmal ironische Erzählstil, der dokumentarische Exaktheit mit literarischem Gespür verband und so die von ihr erzählte Realität wie eine Fiktion erscheinen ließ. Sie entdeckte ihn für sich, als sie an der berühmten Reportage „Schneller als der liebe Gott“ arbeitete. Ohne sie und all die Sätze, die sie damals, in den Siebzigerjahren, während ihres Interviews mit Marek Edelman, dem Protagonisten der Reportage, notierte, würde es die Schriftstellerin Hanna Krall womöglich gar nicht geben. Der ehemalige Anführer des Warschauer Ghettoaufstands hatte sich plötzlich entschlossen, sein Schweigen über seine damaligen Erlebnisse zu brechen, doch er erzählte sie auf eine besondere Art: mit Atem verschlagender Lakonie und Selbstironie. Das sagte Hanna Krall sofort zu – auch sie brauchte diesen sachlichen Stil, der den Eindruck größter Distanz weckte.
Im Prinzip ist in diesem Stil auch „Elf“ geschrieben, und doch ist er diesmal irgendwie anders, noch knapper, lakonischer, nervöser, was der Autorin auch bewusst ist: „Dieses Buch hat den heutigen, schnellen Rhythmus“, erklärt sie. „Die Welt ist schneller, fieberhafter geworden. Alles ist heftig, fiebrig, feurig, vor allem die Gefühle. Meistens alle Arten von Hass.“ So sind hier keine fertigen Geschichten zu finden, sondern nur verschiedene Hinweise: Notizen zu alten Texten, Anspielungen auf bekannte Motive und Figuren, Zitate, Spuren von Lektüren, Reflexionen. Sie mag es, wenn ihr Leser gezwungen ist, sich anzustrengen und in diesem literarischen Chaos, das sie schafft, zurechtzufinden.
„Die Welt kommt zu mir und will beschrieben werden“
Und noch etwas ist anders: Früher reiste sie um die Welt, folgte ihren Protagonisten überallhin, nach Israel, Amerika oder Kanada, jetzt, sagt sie, „kommt die Welt zu mir und verlangt, beschrieben zu werden“. Sie kommt in Briefen, per Fax und Mail, am Telefon oder in Form eines persönlichen Besuchs, und dieses vielfältige Kommen bewirkt, dass die Orte in ihrem Buch sich ständig überschneiden: Maria H., die Heldin der „Synapsen“, schreibt ihr aus Amerika über ihren autistischen Sohn. Eine andere Freundin berichtet ihr über die Situation in Uganda, wo sie sich in einer Hilfsorganisation engagiert. Natalia J. hält sie über die Ereignisse an der polnischen Ostgrenze auf dem Laufenden – sie behauptet, die dortigen Verhaltensweisen gegenüber Flüchtlingen würden denen ähneln, die wir aus dem Holocaust kennen: Die einen helfen, die anderen erpressen oder denunzieren. Sie stimmt zwar zu, wenn man ihr sagt, dass Menschen, die Letzteres tun, auch ohne den Holocaust wüssten, wie man erpresst und denunziert, doch sie glaubt, dass sie dann mehr Zeit brauchten, um es zu lernen.
Dass manche von Kralls Geschichten einen autobiographischen Hintergrund haben, ist bekannt. Doch man weiß auch, dass es wenig Sinn hat, sie darauf anzusprechen – ihre Antwort fällt immer ausweichend aus. Deswegen sind auch die Informationen so wertvoll, die man über sie in „Elf“ findet. In den Sätzen über den Tod ihres Mannes und den Krieg in der Ukraine. Oder über den Spaziergang, den sie und der Dichter Piotr S. in Otwock bei Warschau gemacht haben und dem das Buch seinen Titel verdankt: Bolesław-Prus-Straße 11 – so lautete die Adresse eines dortigen Waisenhauses, in dem Krall die ersten Nachkriegsjahre verbrachte. Das Waisenhaus gibt es nicht mehr, die Adresse existiert aber trotzdem, nur ist sie einem anderen Haus zugeschrieben. So hütet die neue Welt die Erinnerung an die alte, an deren Stelle ein paar Selbstsäer wachsen.
Zu ihren alten Reportagen kehrt sie selten zurück. Nur in „Schneller als der liebe Gott“ will sie mehr als siebzig Korrekturen vorgenommen haben – weil es Schullektüre sei und so auf einer Liste mit Shakespeare, Dostojewski und Molière stehe. Bei den anderen Texten tut sie es nicht, außer, es fällt ihr ein Fragment ein, von dem sie selbst meint, dass es schwer zu glauben sei, dann nimmt sie es heraus.
Umso erstaunlicher ist es, wie viele Details aus dem Leben ihrer früheren Figuren sie noch heute weiß. Sie selbst wundert es aber nicht. „Schließlich sind sie Teil meines Lebens“, erklärt sie und korrigiert plötzlich eine ihrer Selbstaussagen. Früher behauptete sie nämlich oft, dass sie im Grunde nirgendwohin gehöre, jetzt sagt sie: „Ich weiß schon, ich gehöre zu ihnen, zu meinen Helden.“ Es kommen, wie man an „Elf“ sieht, immer noch neue hinzu, und dennoch wird die Inschrift, die sie sich für ihr Grab wünscht, bestimmt ihre Richtigkeit haben. Es ist ein Zitat aus „Die Untermieterin“ und lautet: „Und ich habe noch nichts geschrieben über . . .“