Die Gedankenwelt des Attentäters: Taleb A. gab 2019 ein Interview: “Es gibt keinen guten Islam” | ABC-Z
Die Gedankenwelt des Attentäters
Taleb A. gab 2019 ein Interview: “Es gibt keinen guten Islam”
21.12.2024, 10:40 Uhr
Nach dem Attentat von Magdeburg beginnt die Spurensuche: Was trieb Taleb A. an? Vor fünfeinhalb Jahren gab der saudische Arzt der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” ein Interview. A. war damals schon ein öffentlich profilierter und sehr expliziter Islam- und Regimekritiker.
Am Tag nach dem Attentat auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt ist schwer zu verstehen, was den Mann antrieb, der seinen BMW am Freitagabend in eine Menschenmenge steuerte. Nach und nach ergibt sich ein Bild von Taleb A., einem 50-jährigen Arzt aus Saudi-Arabien: Er lehnt den Islam ab, teilt in Sozialen Medien Posts von AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel und dem Tesla-Milliardär und Trump-Vertrauten Elon Musk. Doch warum begeht er diese Tat – ein Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt, ein Tag nach dem Jahrestag des islamistischen Anschlags auf den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz?
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Hinweise auf seine Gedankenwelt liefert ein Interview mit der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” (FAZ), das der Mann im Juni 2019 gab – also vor mehr als fünf Jahren. Die Zeitung veröffentlichte nun das Gespräch nochmals. Seine damaligen Äußerungen lassen nicht erkennen, dass es sich bei ihm um einen radikalisierten Menschen handelt, der zu einer solchen Tat fähig sein könnte. Sehr wohl spricht er sich jedoch schon damals sehr dezidiert gegen Zustände in seiner Heimat und gegen den Islam aus.
Der spätere Attentäter schildert, dass er sich schon mit Anfang zwanzig, als er noch in Saudi-Arabien lebte, vom Islam losgesagt hatte. Dies musste er jedoch nach eigener Darstellung noch lange geheim halten: “Wenn ich mit entfernten Bekannten oder Fremden unterwegs war, bin ich immer mit zum Gebet gegangen und habe so getan, also wäre ich noch ein Muslim.” In Teilen seines engeren Umfelds war seine innere Haltung bekannt, aber auch seine Mutter erfuhr erst später von seiner Abwendung von der Religion. “Meine Familie hasst mich heute, nur weil ich nicht glauben kann, dass man die Hand eines Diebes abhacken sollte”, sagte er.
Öffentlich wurden seine Positionen erst, nachdem er 2006 im Rahmen seiner medizinischen Ausbildung nach Deutschland gekommen war. Nach zehn Jahren, A. arbeitete in der Zwischenzeit als Psychiater in Deutschland, begann er, sich regime- und islamkritisch zu äußern. A. schilderte der FAZ, dass er im Internetforum des Aktivisten Raif Badawi aktiv wurde. Daraufhin habe er Asyl beantragen müssen, er sei bedroht worden. “Man wollte mich ‘schlachten’, wenn ich nach Saudi-Arabien zurückkehren würde.”
Berater für fluchtbereite Saudis
A.s Asylgesuch wurde angenommen, fortan wurde der Mann immer aktiver. Er eröffnete einen Twitter-Account und bekannte sich unter vollem Namen zu seiner Abwendung vom Islam. Ein schwerer Schritt, wie er sagte, denn auch in Deutschland sei es nicht ohne weiteres möglich, als Muslim über seinen “Nichtglauben zu sprechen”: “Leuten wie mir, die einen islamischen Hintergrund haben, aber nicht mehr gläubig sind, begegnen die Muslime hier weder mit Verständnis noch mit Toleranz. Wir verlieren unsere Freunde, wenn wir ihnen sagen, dass wir den Islam verlassen haben.”
Die Zeitung führte damals das Interview mit A., weil er sich von Deutschland aus als Fluchthelfer für saudische Männer und Frauen profilierte. Via Twitter und eine später eingerichtete Telegram-Chatgruppe sowie ein Online-Forum namens “We are Saudis” gab er Ratschläge, wie es gelingen kann, in Deutschland Asyl zu beantragen. In dieser Community wurde A. zu einer bekannten Figur, die sich weiter öffentlich islamkritisch äußerte. “Ich bin der aggressivste Kritiker des Islams in der Geschichte”, sagte er. “Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie die Araber.”
Auch in der FAZ führte er aus, wie ungerecht und unmenschlich er die Regeln der Scharia, die das Rechtswesen in Saudi-Arabien prägen, empfindet. “Als Kind habe ich gesehen, wie ein achtjähriges Mädchen auf der Straße von ihrem Vater krankenhausreif geschlagen wurde, weil sie eine seiner Anordnungen nicht befolgt hat. Ich habe ihr Blut auf der Straße gesehen. Für den Vater gab es keine Konsequenzen.” A. beriet nach eigener Darstellung zahlreiche Menschen, vor allem Frauen, die aus diesem Umfeld fliehen wollten oder schon geflohen waren.
Das Gespräch der FAZ mit A. skizziert einen Menschen, der mit dem Islam vollkommen abgeschlossen zu haben scheint. Die letzte Frage in dem Interview lautet: “Glauben Sie, trotz all Ihrer Erfahrungen, dass es einen Islam geben kann, in dem die Frauen gleichberechtigt sind?” A.s Antwort: “Nein, das glaube ich nicht. Es gibt keinen guten Islam.” Ob seine kritische Haltung zum Islam mit seiner Tat in Verbindung steht, ist zum jetzigen Zeitpunkt jedoch noch vollkommen unklar.