Schach-WM: Drei Wochen auf 64 Feldern, und dann der Kater | ABC-Z
Wer als
Reporter schon etliche Schachweltmeisterschaften miterlebt und -erlitten hat,
kennt natürlich dieses Loch, das sich am Ende des Duells plötzlich auftut. Wenn
die Entscheidung gefallen ist, schrumpfen Stunden zu Minuten, und das Geschehen lässt
nicht nur die Spieler, Trainer, Betreuer, Organisatoren, Freunde und Fans beiderlei
Geschlechts benommen zurück, sondern auch die Berichterstatter. Dieses Mal,
in Singapur, kam das Loch noch plötzlicher als sonst; es wurde gewissermaßen um
einen Tag vorgezogen.
Als
Gukesh, der Herausforderer, am Donnerstag in der 14. Runde in einer
remisartigen Stellung immer weiter spielt, um den Weltmeister Ding Liren noch
ein wenig zu ermüden, bevor am Freitag die Tiebreaks gespielt werden, da
denkt niemand, dass der Kampf noch am Abend entschieden werden könnte. Gukeshs
Chef-Sekundant, der Pole Grzegorz Gajewski, will gerade zum Essen gehen, als
sein Smartphone Alarm schlägt: Gukesh gewinnt! So erzählt er es später.
Zehn
Minuten danach Pressekonferenz, erste Autogramme des neuen Weltmeisters im
Treppenhaus, und vor der Tür wartet schon der Bus, in den er mit seinen Lieben
verschwindet. Die Schachreporter bleiben aufgewühlt zurück, verfassen eilige
Berichte und versuchen Interviews anzusetzen für den nächsten Tag in dem
schmalen Zeitfenster zwischen Sieg und Siegerehrung. Seit drei Wochen sind sie
hier, haben die Atmosphäre erspürt und dokumentiert, ohne Informationen aus dem
engsten Kreis zu bekommen. Jeder Spieler versucht, von seinem Tun möglichst
wenig preiszugeben, der Gegner soll im Unklaren bleiben. Nach dem Ende des
Duells ist Gesprächsbereitschaft da; nur ist nun die Nachfrage riesengroß. Halb
Indien steht an. Man spricht mit wem immer man kann, ohne sich zwischendurch sortieren
zu können.
Gukesh sagt im Interview mit chess.com: “Ich kann jetzt mehr Menschen fürs Schach begeistern, und das ist mir eine große Ehre.”
Ding Liren sagt: “Ich hoffe immer noch auf ein Tiebreak heute.”
Der Interviewtag
endet mit der Siegerehrung, an die sich in Singapur ein formloses Anstoßen
anschließt. Der Weltmeister, die vielen Inder, der Weltschachpräsident, die
lokalen Organisatoren, die Ehrengäste und Reporter aus aller Welt – sie
wechseln noch ein paar Worte, dann kommt der Sicherheitsdienst des Equarius Hotels
und schiebt sie aus dem Saal, schiebt sie wirklich raus, einige haben noch ein
Glas in der Hand. In der Lobby sind schon die Handwerker am Krachen; sie reißen
den Google-Stand ab, ratsch-ratsch. Das war ja übrigens die Überraschung
schlechthin zu Beginn der WM: Dass die Singapore Chess Federation ein weltweit
führendes Unternehmen als Sponsor gewinnen konnte. Beim Weltschachverband Fide hatte
es immer nur gereicht für Gazprom, den russischen Düngemittelkonzern Phosagro
oder einen US-amerikanischen Pokerplattformmilliardär.
Raus,
raus, raus auf die Straße, hinein in die feucht-tropische Nacht, 30 Grad warm,
vorm Hoteleingang wird die WM-Reklame schon von Tannengrün und bunten Kugeln abgelöst.
Schach is over, jetzt kommt Santa Claus.
Am Tag
danach, da fällt man dann ganz tief ins Loch. Es ist wie ein Kater, ein
Schach-Kater. Drei Wochen lang Turm- und Bauerndrogen, Schach von nachmittags bis in die Nacht, und während in der fernen Welt mit
ihrer von X stimulierten Nörgelbereitschaft an der weltmeisterlichen Remisbereitschaft
herumgekrittelt wird, laden sich die Leute in Singapur mit Zweikampfenergie
auf. Die Anspannung wächst von Runde zu Runde, und immer ist sie größer, als
man es selbst bemerkt.
Einer wird
gewinnen, ja. Bloß wer? Selten war das so unklar wie hier. Irgendwann befragen
sich die Berichterstatter gegenseitig: Was glaubst du denn, wer es wird?
Ein ununterbrochener
Kampf in 14 Etappen zwischen zweien, die es wissen wollen. Das ist eine mentale
Kraftanstrengung, die sich vom Brett ins Publikum transpiriert. Und dann die letzte Partie, der Turmzug
von f4 nach f2, mit dem sich Ding das jähe Ende beschert und der allen
Schachspielern in Erinnerung bleiben wird, wie auch das mit ihm verknüpfte
Motiv, den in der Ecke stehenden weißen Läufer zum Abtausch zwingen zu können,
um im Bauernendspiel zu siegen.
Drei
Wochen, die in einem Kollaps enden. In das Mitgefühl mit Ding mischt sich die Freude
über den Sieg Gukeshs. Alle, die das miterlebt und -erlitten haben, müssen jetzt
wieder zu sich kommen, ins Nichtschachleben zurückfinden. Erst mal Koffer
packen, Hotelzimmer räumen, Taxi bestellen.
Hier finden Sie alle Berichte unseres WM-Reporters Ulrich Stock.