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Experte zu Putins Raketen in Belarus: “Der Gegenschlag der NATO würde dann nicht Russland treffen” | ABC-Z

Vor wenigen Tagen treffen sich Russlands Präsident Putin und der belarussische Machthaber Lukaschenko in Minsk, um einen Vertrag über “gegenseitige Sicherheitsgarantien” zu unterzeichnen. Zum Inhalt des Abkommens gibt es bislang nur Spekulationen. Historiker Alexander Friedman vermutet im ntv.de-Interview aber, dass Moskau damit sein Nachbarland in eine noch stärkere militärische Abhängigkeit treiben will. Putin könnte nun offiziell Zugriff auf belarussische Soldaten haben. Und – sollte es zu einem Krieg mit dem Westen kommen – das Gebiet des Nachbarlandes für Aktionen gegen die NATO nutzen.

ntv.de: Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin haben vergangene Woche in Minsk ein Abkommen über “gegenseitige Sicherheitsgarantien” unterzeichnet. Der Inhalt bleibt geheim. Was ist das für ein Abkommen?

Alexander Friedman: Bislang gibt es nur Spekulationen über den Inhalt des Abkommens. Laut der belarussischen Exilorganisation BELPOL die aus ehemaligen Sicherheitskräften besteht und regimekritische Informationen sammelt, handelt es sich um ein Dokument, das unter anderem eine militärische Unterstützung der belarussischen Seite durch Russland vorsieht. Sollte es in Belarus wie zuletzt 2020 etwa zu Unruhen kommen, dann wäre der Einmarsch von russischen Truppen durch den neuen Vertrag abgesegnet. Außerdem soll das Dokument festhalten, dass belarussische Truppen eingesetzt werden können, wenn Russland Unterstützung benötigt, etwa im Falle eines Angriffs.

Alexander Friedman ist promovierter Historiker. Er lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Alexander Friedman ist promovierter Historiker. Er lehrt Zeitgeschichte und Osteuropäische Geschichte an der Universität des Saarlandes und an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Was heißt das konkret?

Dieser Vertrag – wenn die BELPOL-Informationen stimmen – bedeutet, dass Belarus in die russische Militärinfrastruktur integriert wird und von Russland auf verschiedenste Art und Weise in Kriegen oder zu militärischen Zwecken genutzt werden kann. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass die belarussischen Truppen im Auftrag von Russland eingesetzt werden, steigt.

Im Grunde heißt das, dass die belarussischen Streitkräfte dem Kreml nun zur Verfügung stehen? Damit könnte Putin sie doch sofort in die Ukraine oder in die Region Kursk schicken.

Wenn wir das sachlich betrachten, hätte der Kreml das ohnehin jederzeit tun können. Wenn Putin es unbedingt gewollt hätte, hätte Lukaschenko kaum Möglichkeiten gehabt, sich seinem Willen zu widersetzen. Aber Putin hat eine Vorliebe für juristische Formalitäten. Ihm ist es besonders wichtig, dass bestimmte Dinge auf dem Papier festgehalten werden. Das, was er von Lukaschenko ohnehin erpressen konnte, kann er jetzt tatsächlich jederzeit verlangen. Theoretisch könnten belarussische Truppen somit jederzeit, jeden Moment im Ukraine-Krieg eingesetzt werden.

Haben Sie ein konkretes Szenario vor Augen?

Schauen wir uns die Entwicklungen im Raum Kursk an: Dort sind ukrainische Truppen in einem Gebiet aktiv, das völkerrechtlich als Teil der Russischen Föderation anerkannt wird. In einem solchen Fall könnte Russland sagen: “Wir wurden angegriffen und brauchen die Unterstützung unserer Verbündeten.” Sollte das Abkommen den BELPOL-Informationen entsprechen, hätte Belarus keine andere Wahl, als Truppen dorthin zu entsenden.

Wie wahrscheinlich ist es, dass Putin die belarussischen Truppen jetzt wirklich im Ukraine-Krieg einsetzt?

Aus meiner Sicht ist das derzeit eher unwahrscheinlich. Die Russen schätzen die Qualität der belarussischen Armee nicht besonders hoch ein. Erstens ist sie klein, und zweitens fehlt ihr jede Kampferfahrung. Es ist fraglich, ob sie für Russland eine tatsächliche Verstärkung wäre. Natürlich könnte Russland die Belarussen als Kanonenfutter einsetzen, aber dafür sehe ich aktuell keine Notwendigkeit. Russland verfügt noch über genügend eigene Kräfte und hat zudem ein “günstigeres Kanonenfutter” – die Nordkoreaner.

Aber wenn die belarussischen Truppen sowieso zur Verfügung stehen: warum nicht?

Der Einsatz belarussischer Soldaten birgt Risiken. Es ist unklar, wie sich die belarussische Armee im Krieg präsentieren würde. Ebenso wenig weiß man, wie die belarussische Bevölkerung darauf reagieren würde. Der Krieg ist in Belarus äußerst unpopulär. Für die meisten Belarussen kommt eine direkte Beteiligung nicht in Frage. Sollten jedoch belarussische Soldaten an die Front geschickt werden, könnte dies die Lage in Belarus destabilisieren. Und genau das möchte Moskau vermeiden: Russland will die Stabilität in Belarus bewahren und Lukaschenkos Regime nicht gefährden.

Lukaschenko hat die Präsidentschaftswahlen, die eigentlich im Sommer stattfinden sollten, auf den Januar vorverlegt. Hängt das mit dem neuen Abkommen zusammen?

Ich denke, Lukaschenko wollte auf Nummer sicher gehen. Er könnte befürchtet haben, dass es im Ukraine-Krieg im Winter zu einer Eskalation kommt. In diesem Fall könnten die Russen das neue Abkommen nutzen, um ihn unter Druck zu setzen und belarussische Truppen in die Ukraine zu schicken. Mit der Vorverlegung der Wahlen kann er jedoch argumentieren: “Moment mal, das geht jetzt nicht. Bei mir sind Wahlen, und währenddessen sollte man die Situation nicht zusätzlich destabilisieren.” Er versucht, Zeit zu gewinnen und die heiße Phase auszusitzen – in der Hoffnung, dass nach der Amtseinführung von Trump Friedensverhandlungen beginnen.

Im Abkommen soll festgehalten sein, dass Russland seine Truppen nach Belarus schicken kann, etwa bei Unruhen. Wie wahrscheinlich ist es, dass Russland dies nutzt, um einen Putsch zu inszenieren, Lukaschenko zu entmachten und Belarus zu annektieren?

Ich halte es für unwahrscheinlich, dass die Russen so etwas derzeit nötig haben. Lukaschenko macht ohnehin alles, was sie von ihm verlangen. Sie kennen ihn, sind mit ihm zufrieden und wollen die Zusammenarbeit fortsetzen – vorausgesetzt, er ändert seine Politik nicht radikal. Sollte Lukaschenko jedoch plötzlich mit Russland brechen und versuchen, sich dem Westen anzunähern, wären radikale Schritte seitens Moskaus sehr wahrscheinlich. Der Kreml hätte in einem solchen Fall sicherlich keine Hemmungen. Aber das ist ein rein theoretisches Szenario. Lukaschenko ist pragmatisch und intelligent genug, um seine Abhängigkeit von Russland zu erkennen und entsprechend zu handeln.

In Belarus sind russische Atomwaffen stationiert, bald soll Minsk auch die neuen Oreschnik-Raketen erhalten. Einige Beobachter meinen, Putin könnte den Westen von Belarus aus angreifen, woraufhin ein Gegenschlag des Westens Belarus treffen würde. Könnte das Teil von Putins Kalkül sein?

Ja, das ist möglich. Für Belarus wäre das ein erschreckendes Szenario. Wenn Putin den Westen mit Raketen angreift, die in Belarus stationiert sind, würde der Gegenschlag des Westens vermutlich zuerst Belarus treffen – und nicht Russland. Das wäre eine Art Zwischenstufe vor einem möglichen Schlagabtausch zwischen der NATO und Moskau. Nehmen wir an, es läuft so ab: Von belarussischem Territorium wird ein Angriff auf Litauen oder Polen ausgeführt, und Lukaschenko übernimmt die Verantwortung dafür. In so einer Situation würde der Gegenschlag der NATO Belarus treffen. In diesem Fall bestünde noch die Möglichkeit, einen direkten Schlagabtausch zwischen Moskau und Washington abzuwenden. Es wäre also noch möglich, sich irgendwie zu einigen und eine globale Katastrophe zu vermeiden.

Das klingt schrecklich für Belarus, aber strategisch clever aus Sicht des Kremls. Russland hat nun Zugriff auf die belarussische Armee. Dazu kommen russische Raketen auf belarussischem Territorium, die Moskau gegen den Westen einsetzen kann, ohne selbst direkt betroffen zu sein. Bedeutet dieses Abkommen, dass Belarus ausschließlich verliert?

Das stimmt, Belarus hat mit diesem Abkommen seine Souveränität weiter verloren. Aber wichtig ist auch, wie Putin Belarus wahrnimmt. Für ihn ist ein unabhängiger belarussischer Staat ein historisches Missverständnis, das es zu korrigieren gilt. Er sieht Belarus längst als Teil seiner Einflusssphäre. Das Land, seine Ressourcen und Streitkräfte betrachtet er als russisch – ob Belarus offiziell annektiert wird oder weiter als abhängiger Staat existiert, ist für ihn zweitrangig. Wichtig ist allein die vollständige Kontrolle. Schon vor diesem Vertrag konnte Russland belarussische Ressourcen nutzen. Das Abkommen verleiht dem nur eine juristische Grundlage. Grundsätzlich hat sich nicht viel verändert – es ist eher eine Bestätigung von Putins Machtanspruch.

Sie sagen, Putin sieht Belarus als Teil Russlands. Als einen Teil, den er leichten Herzens opfern kann, um Schaden vom tatsächlichen Russland abzuwenden?

Ganz sicher ist das nicht. Wenn wir die Situation in der Ukraine betrachten, zeigt sich, dass Putin zwischen verschiedenen Regionen Prioritäten setzt. Die Krim scheint ihm viel wichtiger zu sein als das russische Gebiet Kursk, das aktuell ebenfalls bedroht ist. Belarus gehört für Putin klar zu seiner Einflusssphäre, die er nach Belieben einsetzen kann. Er hat mehrfach betont, Belarus genauso zu verteidigen wie Russland selbst. Aber in einem potenziellen Schlagabtausch zwischen Russland und dem Westen könnte Belarus zur Pufferzone werden. Letztlich ist Belarus extrem gefährdet. Sollte es zu einem Krieg zwischen Russland und dem Westen kommen, wäre Belarus unweigerlich ein zentraler Schauplatz des Konflikts.

Mit Alexander Friedman sprach Uladzimir Zhyhachou

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