Wohnen

Syriens Zukunft könnte islamistisch sein | ABC-Z

Dem Assad-Regime muss man keine Träne nachweinen. An den Händen des langjährigen Gewaltherrschers klebt selbst für die Verhältnisse des Nahen Ostens sehr viel Blut, er hat sein geschrumpftes Reich nur noch mit massiven Menschenrechtsverletzungen zusammengehalten. Assad trägt die Hauptverantwortung für den Bürgerkrieg, weil er die friedlichen Proteste, die im Frühjahr 2011 als Teil des „Arabischen Frühlings“ entstanden, gewaltsam niederschlagen ließ.

Der daraus entstandene Konflikt, dem vermutlich Hunderttausende zum Opfer fielen, hat nicht nur Syrien selbst ins Unglück gestürzt, sondern dramatische Folgen für die Nachbarländer und für Europa gehabt: Stellvertreterkriege, Flüchtlinge, Terrorismus. Von all den Aufständen, die nach 2010 in der arabischen Welt ausbrachen, ist der syrische Bürgerkrieg bis heute der zerstörerischste.

Flickenteppich von Herrschaftsgebieten

Trotzdem sind die Aussichten nach dem Fall des Regimes nicht rosig. Das Beste, was man derzeit über Syriens Zukunft sagen kann, ist, dass sie offen ist. Dass sie freiheitlich sein wird, liberal-demokratisch im westlichen Sinne, ist eher unwahrscheinlich. Die Truppen, die am Sonntag in Damaskus einrückten, gehören zu einer Islamisten-Allianz, die aus der Terrorbewegung Al Qaida hervorgegangen ist. Ihr Anführer gibt sich nun moderat, aber das muss nicht viel heißen. Wenn Islamisten erst mal an der Macht sind, dann werden sie versuchen, ihre Weltanschauung durchzusetzen. Unabhängige staatliche Institutionen, die ihnen Widerstand leisten könnten, wird es nach der langen Diktatur nicht geben.

Die Frage ist allerdings, wie weit die Herrschaft von Hay’at Tahrir al-Scham reichen wird. Am Wochenende konnten die Milizen neben der Hauptstadt weitere strategisch wichtige Orte einnehmen wie Homs, das für den Zugang zum Mittelmeer entscheidend ist. Syrien dürfte allerdings fürs Erste ein Flickenteppich von lokalen Herrschaftsgebieten und Einflusszonen bleiben: Kurden im Nordosten, türkeitreue Gruppen im Nordwesten, Reste des „Islamischen Staats“ im Zentrum und lokale Aufständische im Süden.

Kämpfer und Unbeteiligte versammeln sich am Sonntag in einer Moschee in DamaskusAFP

Hinzu kommt die religiös-ethnische Vielfalt, die auch in anderen arabischen Gesellschaften Konflikte schürt: Sunniten, Alawiten, Kurden, Drusen. Die Zutaten für ein Fortdauern des Bürgerkriegs sind da. Dass Millionen Syrer das Land verlassen haben, macht die Lage ebenfalls nicht einfacher. Sie fehlen zum Aufbau eines neuen Gemeinwesens, das ist die oft übersehene Kehrseite der westlichen Asylpolitik.

Zu den Lichtblicken der aktuellen Entwicklung gehört die Schwächung des russischen und iranischen Einflusses auf das Land. Putin hatte Assad eine Luftwaffe gestellt, die Iraner lieferten Soldaten und Waffen. Auch andere Staaten intervenierten in diesem Konflikt, von den Golf-Arabern bis zur Türkei. Aber die größte Wirkung hatte die Einflussnahme aus Moskau und Teheran. Ohne diese Unterstützung hätte sich Assad nie so lange halten können. Dass ihn seine Verbündeten nun fallen ließen, zeigt die Überdehnung zweier Regime, die gerne so tun, als kenne ihre Macht keine Grenzen.

Geopolitische Erschöpfung des Westens

Russland musste sich letztlich zwischen der Ukraine und Syrien entscheiden. Ähnlich wie Putins Rückgriff auf nordkoreanische Soldaten zeigt dieser Vorgang, dass er nicht so gefestigt dasteht, wie gerade in Deutschland viele glauben. ­Syrien war eine wichtige Zwischenstation in seinem Versuch, die bestehende, großteils westlich geprägte Weltordnung einzureißen. Jetzt ist nicht mal gewiss, dass Russland dort seine Stützpunkte behalten kann.

Iran wiederum konnte die Schwächung der Hizbullah, seiner libanesischen Schattenarmee, die auch in Syrien aktiv war, nicht kompensieren. Die Unterbrechung des Landkorridors zur Nordgrenze Israels, den die iranischen Revolutionsgarden über viele Jahre aufgebaut haben, könnte die nahöstliche Machtbalance erheblich verändern. Der Versuch der Hamas, die ganze Region in einen Krieg mit Israel zu ziehen, endet jedenfalls damit, dass ihr Sponsor Iran sich von einem Hauptschauplatz zurückziehen muss. Damit dürfte man sich in Israel immer mehr die Frage stellen, ob nun der Moment gekommen ist, einen Schlag gegen das iranische Atomprogramm zu führen.

Den Westen trifft das alles wie immer unvorbereitet und vor allem in einem Zustand geopolitischer Erschöpfung. Der scheidende amerikanische Präsident Biden lässt mitteilen, er beobachte die Lage; Trump, der schon auftritt, als sei er im Amt, sagt ohne Umschweife, Amerika müsse sich heraushalten. Aus Europa sind die erwartbaren Floskeln zu hören (Freude über Assads Abgang, Sorge über Minderheitenrechte), handlungsfähig ist aber keiner in der EU. Auf Deutschland könnte noch einmal eine Debatte über den Schutzstatus von Syrern zukommen – eine andere als erwartet.

Back to top button