Warum der Krankenstand in Hessen auf Rekordniveau ist |ABC-Z
Der Physiotherapie-Termin wird abgesagt – die Therapeutin hat Corona. Beim RMV fallen Züge im S-Bahn-Verkehr aus, weil es beim Fahrpersonal zu viele Krankheitsfälle gibt. Es ist Sommer, und viele sind krank. Die These, dass die EM mit gemeinsamem Schauen der Spiele zu einer Verbreitung von Infekten beigetragen hat, will bei den Krankenkassen zwar niemand offiziell bestätigen, doch es gibt Anzeichen, dass die Infekte sich zu der Zeit besonders stark verbreitet haben.
Daten von Krankenkassen, die allerdings nur bis Ende Juni reichen, belegen die Anstiege. Bei der Barmer in Hessen mit 730.000 Versicherten, unter diesen 319.000 Erwerbstätige, führten Atemwegserkrankungen allein in der Woche vom 17. bis 23. Juni bei 21,1 von 1000 versicherten Beschäftigten zu einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Damit lag Hessen weit über dem Bundesdurchschnitt von 18,7 je 1000 Barmer-Mitgliedern.
Nach Angaben eines Sprechers liegt diese Rate auch deutlich (mit rund 66 Prozent) über dem Wert des Vorjahres im gleichen Zeitraum – seinerzeit waren 12,7 von 1000 Beschäftigten aufgrund einer Atemwegserkrankung nicht arbeitsfähig. Die Zahl der arbeitsunfähig Erkrankten liege allerdings erheblich unter dem Niveau der Wintermonate, teilt die Kasse mit. Mitte Dezember wurde in Hessen mit rund 63,2 von 1000 Beschäftigten mit einer atemwegsbedingten Arbeitsunfähigkeit ein Jahreshöchstwert erreicht.
Risikoquellen aufspüren und Schutzmaßnahmen einhalten
Bei der Art der Atemwegserkrankungen führten bei den Barmer-Versicherten in der Juniwoche die „banalen Effekte“ (2,5 je 1000), gefolgt von Covid-19 (1,7), Pneumonie (0,8) und Grippe (0,3). 15,8 von 1000 Beschäftigten waren aufgrund sonstiger Atemwegsinfekte krankgeschrieben. Hierunter fallen unter anderem typische Infektionen der oberen Atemwege wie Sinusitis oder Bronchitis.
Höhere Krankenstände bei der gleichzeitig beginnenden Urlaubszeit bedeuten eine zusätzliche Belastung für Unternehmen, hebt Martin Till, Landeschef der Barmer in Hessen, hervor. „Gerade in der Ferienzeit können die derzeit vergleichsweise erhöhten Krankenstände betriebliche Abläufe stören, weil Teams zusätzlich verkleinert werden“, sagt er auf F.A.Z.-Anfrage und empfiehlt, dort, wo es möglich ist, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Dazu zählt er etwa regelmäßiges Lüften, die Vermeidung größerer Gruppenbildungen oder Homeoffice, „um das Risiko für weitere Ansteckungen am Arbeitsplatz zu senken“.
Der starke Anstieg der Atemwegserkrankungen vom Jahr 2022 an übersteigt alle in vorausgehenden Zeiträumen von den Krankenkassen beobachteten Veränderungen. Er wird bei der Barmer damit erklärt, dass es nach der Pandemie wieder mehr Kontakte nach der längeren Phase mit nur geringer Keimexposition gab. Zudem könnten auch die telefonische Krankschreibung sowie die im Jahr 2022 fortschreitend implementierte elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) zu einer höheren Zahl an gemeldeten Arbeitsunfähigkeiten beigetragen haben, heißt es bei der Barmer.
Vermehrt Fehltage wegen psychischer Leiden
Dass Hessen offenbar besonders anfällig sind, belegen auch Daten der TK und der DAK. Denn auch deren versicherte Erwerbstätige sind häufiger krank als im Bundesdurchschnitt. Der Krankenstand im Bundesland lag bei der DAK im ersten Halbjahr 2024 mit 5,9 Prozent 0,2 Prozentpunkte über dem deutschlandweiten Durchschnitt, wie die jüngste Auswertung zeigt. Demnach waren an jedem Tag von Januar bis Juni 2024 im Durchschnitt 59 von 1000 DAK-versicherten Arbeitnehmern krankgeschrieben. Damit lag der Wert auch über dem vorherigen Halbjahreswert (5,6 Prozent), was schon der höchste Wert seit sieben Jahren war. Somit ist der Krankenstand weiter auf einem Rekordniveau.
Bei der DAK wurden für das erste Halbjahr im Schnitt 10,8 Fehltage je Arbeitnehmer registriert. Mehr als die Hälfte der Beschäftigten war von Januar bis einschließlich Juni mindestens einmal krankgeschrieben (53,7 Prozent). Wobei es allerdings nicht nur um Atemwegserkrankungen geht, wenngleich sie den größten Ausfall verursachen: Mit 220 Fehltagen je 100 Versicherte waren es jedoch etwas weniger als im Vorjahreshalbjahr (237 Tage).
Ebenfalls besonders relevant waren laut DAK Muskel-Skelett-Erkrankungen wie Rückenschmerzen (186 Fehltage je 100 Versicherte). Vor allem aber registriert die DAK einen starken Anstieg bei den psychischen Erkrankungen. „Bei den Fehltagen aufgrund von Depressionen oder Anpassungsstörungen gab es im Vergleich zum Vorjahreszeitraum einen Anstieg um 20 Prozent“, teilt die Krankenkasse mit. Psychische Erkrankungen verursachten demnach in Hessen in der ersten Jahreshälfte mit 191 je 100 Versicherte die zweitmeisten Fehltage. Im Vorjahreshalbjahr waren es noch 160 Tage.
Die DAK appelliert darum an Arbeitgeber, sich für die Gesundheit der Mitarbeiter einzusetzen. „Ein weiterer Anstieg beim Arbeitsausfall wegen psychischer Erkrankungen ist besorgniserregend“, sagt Britta Dalhoff, Landeschefin der DAK-Hessen. „In diesen Kriegs- und Krisenzeiten stehen die Beschäftigten in Hessen weiterhin unter Druck.“