Kultur

Genialität mit Beigeschmack: Teodor Currentzis mit der „Matthäuspassion“ | ABC-Z

Salzburg – Der Mann polarisiert. Die einen stören sich an seinem schamanenhaftes Gehabe, seiner merkwürdige Schlagtechnik und seinen zugespitzten Interpretationen. Andere wiederum finden seine Verbindung zu russischen Energiekonzernen obskur, die seine Ensembles zumindest zum Teil finanzieren. Einzelne Musiker, mit denen er arbeitet, sympathisieren außerdem offen mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Florian Boesch als Jesus
© Marco Borrelli/SF
Florian Boesch als Jesus

von Marco Borrelli/SF

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In Österreich sieht man alles lässiger. Teodor Currentzis ist – neben der Sängerin Asmik Grigorian – das Markenzeichen der von Markus Hinterhäuser geleiteten Salzburger Festspiele gleich nach dem “Jedermann”. Und zwar gerade deshalb, weil er ein Interpret ist, der ständig Gesprächsstoff liefert.

Ein schöpferisches Kollektiv

Heuer dirigiert der Genialische wieder Mozarts “Don Giovanni”, davor noch eröffnete er die “Ouverture Spirituelle” der Festspiele mit einer Aufführung von Bachs “Matthäuspassion”, gespielt von seinem etwas russlandferneren Utopia Choir & Orchestra, das sich lauf Programmheft als “besonderes schöpferisches Kollektiv von Menschen mit einer gemeinsamen musikalischen Ideologie versteht”, wie es im Programmheft so hochtrabend wie nichtssagend heißt.

Ob es sich um das aus taktischen Gründen umgelabelte Ensemble MusicAeterna handelt, soll hier offen bleiben: Beides sind jedenfalls auf Currentzis eingeschworene Projektensembles, was eine künstlerische Geschlossenheit erzeugt, wie sie sonst nicht oft zu erleben ist. Und darum kommt man bei allen politischen Bedenken nicht herum.

Opernhaft

Currentzis versteht – und das dürfte wenig überraschen – die Passion als Drama. Das stark besetzte Orchester spielt auf Nachbauten alter Instrumente, der etwa 50-köpfige Chor singt transparent und schlank. Das Klangbild entspricht einschließlich der raschen Tempi der Tradition der historischen Aufführungspraxis. Andererseits greift der Dirigent durch die vergleichsweise große Besetzung, dynamische Gegensätze und subjektiv gefühlte Momente auf den älteren romantischen Stil zurück, der frömmelnde “Parsifal”-Effekte und das Opernhafte nicht verschmähte.

David Fischer (Tenor)
© Marco Borrelli/SF
David Fischer (Tenor)

von Marco Borrelli/SF

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Und so wird nach Barrabas wieder geschrien wie weiland unter Karl Richter. Den Chor “Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen” lädt Currentzis zwar nicht ganz so mit bedeutungsvoller Dynamik auf, aber er verzichtet auch auf die zuletzt übliche Neutralität. Das ist ein interessanter, auch Extreme riskierender Mittelweg zwischen allen Stühlen, der vor allem deswegen überzeugt, weil er von einem erstaunlichen interpretierenden Gemeinsinn getragen wird. Richtig oder falsch kann es bei Bach ohnehin nicht geben.

Mit Schrullen und mit Beigeschmack

Der Chor beeindruckte durch Flexibilität und Transparenz (Einstudierung: Vitaly Polonsky). Julian Prégardien war als Evangelist bis zum Schrei vom Geschehen bewegt. Aber er dosierte solche Extreme mit Geschmack. Gleiches gilt für Florian Boeschs sehr menschlichen Jesus. Wiebke Lehmkuhl (Alt), David Fischer (Tenor) und Matthias Winckler (Bass) sangen ebenfalls sehr ausdrucksstark. Schwächen zeigte nur der sehr manierierte und auch historisch falsche Countertenor Andrey Nemzer.


© Alexandra Muravyeva
von Alexandra Muravyeva
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Currentzis wäre aber ohne seine Schrullen nicht Currentzis. Der Choral “O Haupt voll Blut und Wunden” wurde von einem Fernchor wiederholt. Die letzten Worte Jesu (“Eli, Eli, lama asabtani”) sang der Chor, während Boesch stumm wie eine Statue auf seinem Podium stand. Nach dem Tod Jesu ging im Haus für Mozart das Licht aus, und zum Pianissimo im Dunklen gesungenen “Wenn ich einmal soll scheiden” läutete ein fernes Totenglöckchen.

Braucht Bach derlei Kitsch? Eher nein. Braucht man Currentzis als Bach-Interpreten: Ja, weil der historisch informierte Stil mittlerweile oft blutleer wirkt und etwas mehr Emotion bei Barockmusik sicher nicht schadet. Trotzdem bleibt – wie immer bei Currentzis – ein schaler Beigeschmack. Geübt hat man für diese in vielerlei Hinsicht perfekte und beeindruckende Aufführung in Moskau und Perm. Und so sehr sich die Salzburger Festspiele die Hände in Unschuld waschen: Es ist Blutgeld, mit dem die Ensembles dieses Dirigenten finanziert werden. Zumindest teilweise.

Currentzis gastiert mit dem Utopia Orchestra am 1. November und wieder am 13. April 2025 mit Werken von Gustav Mahler in der Isarphilharmonie. Karten und Infos unter muenchenmusik.de

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