Weltweite IT-Störung: Erst wenn der Bildschirm blau wird, wachen wir auf | ABC-Z
Plötzlich funktioniert nichts mehr. Flüge können weltweit nicht starten, die Notfallversorgung bricht vielerorts zusammen. In den sozialen Medien sammeln sich Fotos des blue screen of death – eines leeren blauen Bildschirms an Selbstbedienungskassen im Supermarkt, in TV-Studios, Snackautomaten, Shopping-Malls und sogar einer MRT-Maschine. Ein Update der Cybersecurity-Firma CrowdStrike – das durch den Zusammenbruch gestern schlagartig zu einem der bekanntesten Unternehmen weltweit geworden ist – hat bei vielen Windows-Computern einen Crash ausgelöst. Einmal mehr legt ein Unfall offen, wie groß die Probleme unserer globalen Infrastruktur sind. Einmal mehr legt ein Unfall offen, dass es an der Zeit ist, Tech-Monopole zu brechen. Doch der Reihe nach.
Infrastruktur hat eine seltsame Eigenschaft: Sie wird immer erst dann sichtbar, wenn sie aufhört zu funktionieren. Man denkt nicht über die Straße nach, bis man in ein Schlagloch fährt. Die Rohre in den Wohnungswänden bemerkt man erst während des Wasserschadens, die Kabel während des Stromausfalls. Und erst wenn der Zug verspätet ist, bemerkt man das Schienennetz – Letzteres in Deutschland also ständig.
Hören unsere Infrastrukturen auf zu funktionieren, hören wir auf zu funktionieren. Wie noch den eigenen Job verrichten, wenn Windows weltweit nur blaue Bildschirme zeigt? Wie noch ein Sozialleben führen, wenn das Handynetz zusammenbricht oder, noch banaler, der Akku leer geht?
Wozu wir in der Lage sind, wird bestimmt durch die uns verfügbare Infrastruktur. Ein Mantra, das zum Beispiel von Aktivisten für Barrierefreiheit mit Recht immer wieder wiederholt wird. Denn was auch immer der moderne Mensch laut humanistischer Tradition alles sein mag, ohne seine Infrastruktur bleibt wenig übrig davon. “Modern zu sein”, bringt es der Historiker Paul N. Edwards in seinem Essay Modernity and Infrastructure auf den Punkt, “bedeutet ein Leben innerhalb und mithilfe von Infrastrukturen.”
Das Projekt der Moderne, was auch immer sonst es gewesen sein mag, war vor allem der radikale Ausbau nationaler, internationaler und globaler Infrastruktur. Und ein solcher Ausbau ist gewissermaßen ein Ausbau des Menschen.
Von Menschen, Flughäfen und Pferdehintern
Ob etwas als Infrastruktur gilt oder nicht, ist fast immer eine Frage des Maßstabs. Um im Winter von A nach B zu kommen, ist ein warmes Paar Socken genauso wichtig wie die Straße selbst. Dennoch wird mit Infrastruktur meist ein großes, technisches Versorgungssystem bezeichnet.
Ihre Größe und Komplexität verleiht Infrastruktur bestimmt Eigenschaften. Ein Beispiel: Im Zweiten Weltkrieg bauten die Briten einen Flughafen nahe Reykjavik auf Island, weil der bisherige zu klein für ihre militärischen Zwecke war. Sie baten die Isländer um finanzielle Unterstützung, doch die – so erzählt es der Medienphilosoph John Durham Peters in seinem Buch The Marvelous Clouds – zuckten nur mit den Schultern: “Sorry, nein”, lehnten sie eine Beteiligung ab, “Aber tut euch keinen Zwang an, den Flughafen mitzunehmen, wenn ihr wieder geht.”
Infrastruktur ist unglaublich träge und hartnäckig. Sie ist viel langlebiger als politische Legislaturperioden, einzelne Menschen und manchmal ganze Weltreiche – das British Empire ging 1997 zu Ende, der Flughafen Reykjavíkurflugvöllur wird heute noch benutzt. Auch die römischen Aquädukte und die Chinesische Mauer haben ihre Baumeister lange überdauert.
Selbst nachdem Infrastruktur in ihrer ursprünglichen Form verschwindet, wirkt sie oft nach: Die Unterseekabel, die das globale Internet bilden, liegen die heute besonders unter jenen Schiffsrouten, auf denen früher Kolonialreiche Gewürze, Raubgüter und Sklaven um die Welt schifften: Wer global gutes Internet hatte, war lange Zeit eine Frage ehemaliger kolonialer Strukturen. Ein weiteres, teilweise umstrittenes Beispiel ist, dass die Standardspurbreite der US-Eisenbahn unhandliche vier Fuß und 8,5 Zoll beträgt (ca. 143 cm), da die Engländer sich dafür an den Spurrillen ihrer Straßen orientiert hatten. Diese waren wiederum ein Erbe des römischen Reichs, wo die übliche Wagenbreite knapp 143 cm betrug – ungefähr die Breite von zwei Pferdehintern.
Alles baut aufeinander auf. Die Prioritäten der Vergangenheit färben dabei die infrastrukturellen Möglichkeiten unserer Gegenwart und Zukunft.
Infrastruktur ist politisch
Diese Prinzipien und Anekdoten mögen abstrakt scheinen, bestimmen jedoch maßgeblich unser tägliches Leben. Denn Infrastruktur ist selbstverständlich politisch. Das sieht man zum Beispiel an Robert Moses, dem wohl einflussreichsten Stadtplaner in der Geschichte von New York City. Die Brücken, die er entlang des Long Island Park bauen ließ, waren zu niedrig, um Busse unter sich hindurchzulassen. Das bedeutete, dass ärmere Menschen ohne eigenes Auto, besonders schwarze und puerto-ricanische Familien, nur schwer zu den Jobs und Freizeitaktivitäten in der Stadt kamen. Bis heute wird heiß diskutiert, ob Moses’ wohlbekannter Rassismus dafür verantwortlich ist oder nicht. So oder so, der Effekt war der gleiche: Infrastruktur als Werkzeug der Exklusion.
Ein bisschen heimatnäher ist die strukturelle Unterinvestition in die Deutsche Bahn durch eine Reihe von CSU-Verkehrsministern in den vergangenen 20 Jahren. Sowohl Union als auch FDP vermitteln zwar gerne das Bild der Deutschen als passionierte Autofahrer, mit Benzin im Blut und Asphalt im Herzen, aber das ist nicht ganz vollständig. Die Wahrheit ist schlicht, dass die Deutsche Bahn im internationalen Vergleich so kaputtgespart wurde, dass das Auto im Vergleich aufgewertet wurde. Fast 20 Prozent aller Gleise wurden zurückgebaut, die Anzahl der Weichen wurde praktisch halbiert und einige Städte werden vom Fernverkehr schlicht nicht mehr angesteuert. Beheben lässt sich das nicht von heute auf morgen: Der angestrebte “Deutschlandtakt” einer Deutschen Bahn, die so verlässlich werden soll wie die der Schweiz, wird nun erst für 2070 angestrebt. Bis dahin haben die Ex-Verkehrsminister Dobrindt, Scheuer und Ramsauer für viele Menschen die Notwendigkeit des Autos strukturell in der deutschen Mobilitätsinfrastruktur verankert. Und das obwohl die Union längst nicht mehr regiert.
Brücken, die ärmere Menschen aus der Stadt fernhalten. Schienen, die auch noch im Jahr 2024 zwei Pferdehintern breit sind. Die marode Deutsche Bahn. An diesen Beispielen sieht man: Infrastruktur bestimmt unsere Möglichkeiten; sie ist hartnäckig, träge und langlebig; und sie kann politische Programme weit über Legislaturperioden hinaustragen. Das bringt uns nun endlich zurück zu CrowdStrike, Microsoft und den Abermillionen blauen Bildschirmen am Freitag.
Monopole sind eine strukturelle Gefahr
Microsoft ist ein Marktführer, sagenhafte 70 Prozent aller Desktopcomputer weltweit nutzen Windows. Jedes technische System geht früher oder später mal kaputt, das liegt schlicht in der Natur der Sache. Niemand drückte das schöner aus als der französische Philosoph Paul Virilio in seinem Buch Der eigentliche Unfall, wo er schreibt: “Das Segel- oder Dampfschiff zu erfinden, bedeutet, den Schiffbruch zu erfinden. Die Eisenbahn zu erfinden, bedeutet, das Eisenbahnunglück des Entgleisens zu erfinden. Das private Automobil zu erfinden, bedeutet die Produktion der Massenkarambolage auf der Autobahn.” Es hat eine gewisse Ironie, dass ausgerechnet CrowdStrike den IT-Unfall ausgelöst hat, also ein Cybersecurity-Unternehmen, das eigentlich vor Unfällen bewahren soll. Doch wer Gefahren auf der einen Ebene beseitigt, schafft immer Gefahren auf einer neuen – das ist das Paradox der Infrastruktur.
Der Weg aus diesem Dilemma ist dennoch ein einfacher: Dopplungen. Es müssen Backup-Systeme oder schlicht Alternativen zu dominanten Konzernen wie Microsoft erschaffen werden. Microsoft selbst wird das nicht tun, muss man sich dort doch an das Marktprinzip absoluter Effizienz halten: Sie zielt auf maximale Größe, um Skaleneffekte ausnutzen zu können, und schaltete Redundanzen aus, die Kosten steigen lassen, aber eben auch Krisenfestigkeit.
Es löst ein Unbehagen aus, dass infrastrukturelle Macht heutzutage so monopolisiert ist; dass die eigene Fähigkeit, in einer modernen Gesellschaft zu funktionieren, von einem einzigen Unternehmen abhängt, von dem man noch nie etwas gehört hat. Und infrastrukturelle Probleme lassen sich nun nicht mal eben lösen, es braucht gezielte Handlungen und Investitionen und sehr viel Zeit. Jetzt wäre der Zeitpunkt, das anzugehen. Denn ab morgen oder übermorgen, wenn die Infrastruktur wieder reibungslos läuft, wird sie wieder unsichtbar. Bis zum nächsten Unfall.