1300 Jahre Weltkulturerbe Kloster Reichenau | ABC-Z
Es gibt viele gute Gründe, an den Bodensee zu reisen: bei gutem Wetter die herrliche Landschaft am „Schwäbischen Meer“ mit Blick auf die Alpen, das im Sommer nahezu mediterrane Klima, viele bezaubernde Parks und Gärten und auch die gute schwäbische Küche. In diesem Sommer steht der Bodensee aber vor allem unter einem Thema: Vor 1300 Jahren wurde das Kloster Reichenau auf der gleichnamigen Insel bei Konstanz gegründet. Die Benediktiner-Abtei – zusammen mit der ganzen Insel seit dem Jahr 2000 Weltkulturerbe – war im Mittelalter über Jahrhunderte hinweg eines der führenden geistlichen Zentren Europas mit Verbindungen bis nach Konstantinopel. Die prächtigen Handschriften aus der Schreibstube der Reichenauer Mönche waren bei Kaiser, Königen und Reichsbischöfen damals heiß begehrt. Unter dem Motto „Welterbe des Mittelalters – 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau“ gibt es zum Jubiläum eine ganze Reihe an Festlichkeiten, sehenswerten Ausstellungen und auch spirituellen Angebote. Zwei Schwerpunkte dominieren: eine große Ausstellung im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz – und natürlich die Klosterinsel selbst.
Kostbare Schätze in der Großen Landesausstellung
Nicht nur erklärten Mittelalter-Fans dürften bei den Schätzen der Ausstellung im Archäologischen Landesmuseum die Augen übergehen: Unter anderem wurden rund 80 Reichenauer Handschriften, darunter 16 Prachthandschriften sowie fünf aus dem Unesco-Weltdokumentenerbe, aus allen möglichen Museen der Welt anlässlich des Jubiläums zusammengeführt. Das gab es so noch nie und dürfte auch keine Wiederholung finden. Einige der Kostbarkeiten kehren nach rund 1000 Jahren das erste Mal wieder an den Bodensee zurück. Ein Highlight sind zehn Vitrinen unter anderem mit dem Liuthar-Evangeliar aus der Domschatzkammer Aachen, dem Egbert-Psalter aus dem Trierer Stadtarchiv, dem Petershausener Sakramentar (Universitätsbibliothek Heidelberg, Titelmotiv der Ausstellung) und dem Evangelistar von Poussay aus der Pariser Nationalbibliothek. Erstmalig außerhalb Triers wird zudem der Andreas-Tragalter, ein überaus kostbarer Reliquienschrein mit goldenem Fuß, gezeigt. Ein echtes „Who is Who“ des Mittelalters kann ebenfalls bestaunt werden, und zwar in Gestalt des Reichenauer Verbrüderungsbuches. Das wurde über Jahrhunderte hinweg geführt, rund 38.000 Namen sind darin verzeichnet. Die zum Teil recht prominente Namensliste reicht von Karl Martell bis zum späteren Papst Urban II. Die Einträge sollten damals für das Seelenheil der Genannten sorgen. Zur Ausstellung gibt es eine eigene App, herunterzuladen auf der Homepage.
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Adresse: Benediktinerplatz 5, 78467 KonstanzAusstellung bis zum20. Oktober
Von Konstanz sind es nur rund 15 Minuten Autofahrt (es fährt auch ein Inselbus) bis zur Insel Reichenau und dem eigentlichen Ort des Geschehens: der Abtei. Laut der Gründungsurkunde (übrigens eine spätere „fromme“ Fälschung, um den Besitzstand des Klosters zu sichern) soll Abt Pirmin 724 dort eine wüste Gegend vorgefunden und sogar wilde Schlangen vertrieben haben. Tatsächlich gab es aber wohl vorher schon eine Besiedelung. Das Gründungsdatum dürfte laut den Ausstellungsmachern dennoch „in etwa“ korrekt sein. Heute gelangt man über einen 1830 errichteten Damm auf die Insel, zuvor war diese komplett vom Bodensee umgeben.
Die Blütezeit des Klosters und somit der Insel lag zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert, wie die Kunsthistorikerin Monika Küble, die selbst auf der Insel lebt, berichtet: „Zu ihrer besten Zeit war die ganze Reichenau wie ein Kloster ohne Mauern.“ Von den einst rund 30 Kirchen und Kapellen blieben nur drei Gotteshäuser erhalten, alle anderen wurden abgerissen. Es stehen noch St. Maria und Markus, die eigentliche Klosterkirche, sowie St. Georg und St. Peter und Paul. Die drei stellen ein einzigartiges Ensemble karolingischer und ottonischer Baukunst dar.
Heute zählt die Insel Reichenau rund 3500 Einwohner und bietet neben den sakralen Bauten durchaus noch weitere Anziehungspunkte: etwa den Reichenauer Wein. Angebaut werden auf rund 22 Hektar, dem südlichsten deutschen Weinanbaugebiet, vorwiegend Müller-Thurgau und Spätburgunder. In der kernsanierten historischen Vinothek, direkt angrenzend an die Klosterkirche, können die Produkte der örtlichen Winzergenossenschaft verkostet und auch gekauft werden. Auch Gemüse, rund 70 verschiedene Sorten, wird auf dem fruchtbaren Inselboden reichlich gezogen. Seit neuestem gibt es sogar Reichenauer Insel-Bier, das in einer Brauwerkstatt gebraut und verkauft wird. Und fangfrische Fische aus dem wieder ganz sauberen Bodensee bietet die Fischerei Reidel in ihrem Bistro an.
Klosterkirche und Klostergeschichte
Während Abt Pirmin drei Jahre nach Klostergründung schnell wieder weiterzog, waren es später zwei andere Mönche, die zur Bedeutung der Reichenau maßgeblich beitrugen: Abt Walahfrid Strabo (807 bis 849), Dichter und Verfasser des ersten Gartenbuchs der Geschichte („Hortulus“), sowie Hermann der Lahme (gest. 1054), wegen seiner Behinderung auch „Stephen Hawking des Mittelalters“ genannt. Er führte die Zeitrechnung nach Christi Geburt ein und schuf eine neue Musikschrift. Die beiden markieren die Blütezeit des Klosters. Danach ging es laut Monika Küble langsam, aber stetig bergab. 1757 wurde das Kloster noch vor der napoleonischen Säkularisierung aufgelöst. Seit 2004 gibt es aber wieder eine kleine Zelle, bestehend aus drei Benediktiner-Patres und zwei Ordensfrauen. Teilnahme am Stundengebet ist möglich.
Der älteste noch erhaltene Teil der Klosterkirche ist die Vierung aus dem 9. Jahrhundert. Der heutige Hauptbau stammt aus staufischer Zeit. Dort sollte man den Blick zur Decke richten: Diese ist wie ein normannischer Schiffsrumpf konstruiert. Die Hölzer stammen nachweislich ungefähr aus dem Jahr 1240 und sind noch zu 80 Prozent original. 830 kamen die Gebeine des Heiligen Markus in die Kirche, heute liegen sie in einem Schrein im romanischen Westwerk. Damit wollten die Mönche nicht zuletzt dem nahen Kloster St. Gallen, ebenfalls ein bedeutendes geistliches Zentrum, Konkurrenz machen, wie Monika Küble berichtet. „Zeitweilig gab es hier einen regelrechten „Reliquien-Sammelwahn.“ So fand 930 noch eine weitere Reliquie, vermeintlich Blut des Heilands sowie Splitter vom Kreuz, den Weg auf die Insel. Aufbewahrt werden sie in einer kostbaren roten, barocken Monstranz. Im Boden des gotischen Chores befindet sich das Grab des letzten Herrschers des Frankenreichs, Karl III. Die Schatzkammer des Münsters birgt weitere Kostbarkeiten aus dem 5. bis 18. Jahrhundert.
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Klostergarten und -museum
Mittelalterlicher Geist lässt sich auch erspüren, wenn man die Klosterkirche verlässt und den angrenzenden Klostergarten betritt. Das Buch „Hortulus“ des Reichenauer Abtes Walahfrid Strabo und der St. Gallener Klosterplan waren maßgeblich für die berühmten mittelalterlichen Klostergärten. Zum Jubiläum wurde der Reichenauer Klostergarten nun für rund eine Million Euro im Geiste dieser Werke neu angelegt und bietet den Besuchern jetzt einen einzigartigen Ort der Ruhe und Entspannung. Richtig schön dürfte es aber erst in einigen Jahren sein, wenn all die Bäume, Sträucher und Hecken richtig gewachsen sind.
Ganz neu konzipiert wurde auch die Dauerausstellung im benachbarten Museum Reichenau: Weniger Text, dafür viele „multisensorische“ Darstellungen wie etwa ein virtuelles Space-Book über die Entstehungsgeschichte des Klosterbaus machen Geschichte hier lebendig. Wer im wahrsten Sinne des Wortes noch tiefer eintauchen möchte in den Mönchsalltag, der kann einen Kalligraphie-Workshop absolvieren. Und man lernt: Die Anfertigung all der kostbaren Handschriften, die von der Reichenau im Mittelalter in alle Welt gingen, war für die Mönche in ihren dunklen Schreibstuben wahre Knochenarbeit, die zugleich höchste Kunstfertigkeit erforderte.
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Eigentlich gar nicht fürs Volk gedacht, sondern als Grabeskirche für den Bischof Egino von Verona (gestorben 802) errichtet, wurde die Kirche St. Peter und Paul in Reichenau-Niederzell. Die imposante dreischiffige romanische Basilika hat man im 18. Jahrhundert teilweise barockisiert. Einen sensationellen Fund machten Restaurateure in den 1990er-Jahren: Im Altartisch entdeckten sie eine Platte, auf der sich im Frühmittelalter an die 400 Menschen mit Namen verewigt haben. Hauptsächlich für ihr eigenes Seelenheil, versteht sich. In der angeschlossenen Kapelle sind Besucher eingeladen, am Stundengebet der 2004 neu gegründeten Cella St. Benedikt teilzunehmen.
Von April bis Oktober leider geschlossen ist die Kirche St. Georg in Reichenau-Oberzell, und das hat einen triftigen Grund: Großflächige Bibeldarstellungen aus dem 9. Jahrhundert, die es so sonst nirgends gibt, müssen vor schädlichen Witterungseinflüssen geschützt werden. Die frühmittelalterlichen Wandmalereien haben aber nicht nur ausschließlich fromme Motive: Eine Darstellung zeigt zwei geschwätzige mittelalterliche Frauen in einer Kirche und daneben ist tatsächlich zu lesen: „Pla Pla…“– augenzwinkernder Humor à la Frühmittelalter.
Natürlich kann man beim Besuch der Reichenau die Stadt Konstanz nicht außer Acht lassen: Jene Stadt, wo die Katholische Kirche von 1414 bis 1418 ihr legendäres (und längstes) Konzil abhielt, damals ein Ereignis von Weltgeltung. Drei Päpste wurden abgesetzt und das erste und einzige Mal ein katholisches Kirchenoberhaupt auf deutschem Boden gewählt. Konstanz wurde kaum zerstört und atmet deswegen noch in vielen Gassen und auf vielen Plätzen den Geist des Mittelalters. Sehenswert sind besonders das Hohe Haus, quasi ein Wolkenkratzer des Mittelalters, sowie die auf einer Anhöhe liegende Münsterkirche. Im Hafen erinnert die Imperia-Statue an das geschichtsträchtige Konzil: Unter den Zehntausenden Fremden, die sich zum Konzil in der Stadt tummelten, befanden sich auch nachweislich Tausende von „Hübschlerinnen“: Imperia war der Legende nach „die schönste aller dieser Kurtisanen“.
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