England im EM-Finale – Southgate: “Ich glaube nicht an Märchen, aber an Träume” – Sport | ABC-Z
Grundsätzlich zählt Harry Kane nicht zu denjenigen Fußballern, die Fragen ausweichen. Der Kapitän des englischen Nationalteams ist es gewohnt, in Interviews mit allen denkbaren Themen konfrontiert zu werden. Bei dieser EM musste er sich trotz seiner drei Turniertore und dem Finaleinzug seiner Mannschaft insbesondere mit Kritik an seiner Form und seinen Leistungen auseinandersetzen, die nicht auf der Höhe seiner üblichen Schaffenskraft wirkten. Beides schien auch eine Folge seiner hartnäckigen Rückenprobleme am Saisonende beim FC Bayern zu sein.
Doch auf der Medienrunde am Vorabend des Endspiels gegen Spanien am Sonntag (21 Uhr) im Berliner Olympiastadion wich Kane der Erkundigung eines Reporters aus, ob er ans Schicksal glaube. Hintergrund der Frage war, dass England nun ausgerechnet in Deutschland erstmals einen Titel jenseits der eigenen Insel gewinnen könnte, nachdem die Germans sich einst in England den EM-Pokal 1996 gesichert hatten.
Southgate hatte 1996 entscheidenden Anteil an Englands Halbfinalniederlage
Kane reagierte so schnell wie als Torjäger bei einem Abpraller im Strafraum. Er drehte sich zu seinem neben ihm auf dem Podium sitzenden Trainer und reichte die Frage an ihn zurück, nachdem Gareth Southgate zunächst schmunzelnd mit dem Finger auf seinen Stürmer gezeigt hatte. Kanes schlagfertige Begründung für die Riposte: Southgate sei es doch damals gewesen, der als Nationalspieler bei der Halbfinalniederlage im Elfmeterschießen gegen Germany auf dem Platz gestanden habe. Die Zuhörer im Pressesaal johlten, jeder kannte natürlich die Pointe, dass Southgate im besagten Spiel den entscheidenden Elfer vergeben hatte. Den Lacher ertrug Southgate würdevoll, er hat in der Heimat schon schlimmere Anspielungen auf seinen lebensbegleitenden Fauxpas über sich ergehen lassen müssen.
England im EM-Finale
:Die Deutschen kopieren, das Trauma therapieren
Der erste EM-Titel? Und dann noch in Berlin? Für die Engländer wäre das ein spezieller Triumph – dank Attributen, die sich der Trainer beim Angstgegner abgeschaut hat.
Als er letztlich dran war, die Schicksalsfrage zu beantworten, ging Southgate spontan ein Lebenssatz von den Lippen, der im Fall des Titelgewinns womöglich auf alle Siegershirts in England gedruckt wird. Southgate sagte: „Ich glaube nicht an Märchen, aber ich glaube an Träume.“ Eine so sagenhafte Aussage, dass sie unbedingt auch in Englisch gelesen werden muss: „I‘m not a believer in fairytales, but I am a believer in dreams!“ Damit würde sich jeder Shakespeare-Roman beginnen lassen, erst recht jedes Drama über den englischen Fußball und die nun 58 Jahre des Herzschmerzes, in denen die Nation seit dem WM-Heimsieg 1966 keinen Pokal mehr stemmte.
Southgates Worte erinnerten an eine berühmte Formulierung im 66er-Endspiel in Wembley. „Some people are on the pitch, they think it’s all over …“, rief damals der BBC-Kommentator Kenneth Wolstenholme ins Mikrofon, weil einige jubelnde Engländer beim Spielstand von 3:2 bereits vor dem Abpfiff der Verlängerung auf das Spielfeld gestürmt waren, ehe er nach dem finalen vierten Tor für England vollendete: „… it is now!“ Einige Leute denken, es sei vorbei – jetzt ist es das.
Phonetisch wären also die Klammern für den Titel 1966 und den möglichen Triumph 2024 durch Southgates Einfallsreichtum schon mal gesetzt. Dass es wirklich so kommt, wünscht sich vermutlich niemand mehr als der englische Edelfan Geoff Hurst, 82, der seine Nation damals mit einem Dreierpack zum Weltpokal schoss. Er ist der letzte lebende Startelfspieler aus der Weltmeisterelf. Sein größter Wunsch sei es, noch einmal einen englischen Titelgewinn mitzuerleben, betonte er kurz vor dem Finale. Nachdem in den vergangenen Jahren viele Kollegen von Hurst gestorben sind, Bobby Charlton, Jimmy Greaves, Roger Hunt, George Cohen, steigt die Sorge im Mutterland des Fußballs, vielleicht bald keinen Titelträger mehr unter sich zu haben, sofern der Nationalmannschaft nicht demnächst ein Erfolg gelingt.
Eine Pressekonferenz – weitaus launiger als manches englische EM-Spiel
Den Stellenwert des anstehenden Finales für England verbildlichte Kane, als er ohne Zögern auf das fiktive Angebot eines Reporters einging, alle seine Auszeichnungen für die EM-Trophäe einzutauschen. Für einen weiteren heiteren Moment sorgte er mit seinen Geburtstagswünschen für den am Samstag 17 Jahre alt gewordenen Spanier Lamine Yamal, als er auf die Fähigkeiten des Talents angesprochen wurde. Die halbstündige Pressekonferenz mit Southgate und Kane war insgesamt weitaus launiger als so manches langatmige EM-Spiel der Engländer.
Den einzigen sportlichen Ausblick auf das Duell mit Spanien hatte der Trainer gleich zu Beginn geliefert. Alle Spieler seien fit, betonte Southgate, und fügte vergnügt an, dies sei ja nicht ungewöhnlich für ein Finale. Dieses Bonmot ging letztlich ebenso unter wie Southgates Selbstironie, wonach er sich vorstellen könne, im Moment seines 96er-Elfers gegen Deutschland eher einer der beliebteren Englishmen in Berlin gewesen zu sein. Mit dieser Referenz leitete er sein Statement ein, ob er ans Schicksal glaube – das mit den Märchen und den Träumen.