Politik

Wie Rita Paul vor den Nazis nach New York floh und jetzt dort das Washington Square Hotel führt | ABC-Z



Ihr Werk: Rita Paul, hier mit ihrer Tochter Judy in der Lobby




„Bonjour!“ Im Französischen hat sie kaum einen Akzent. Mit ihrer Tochter spricht sie die Sprache oft, „aber, na ja, wie eine Amerikanerin“, sagt Rita Paul und lacht. Kennt sie denn noch deutsche Wörter? „Some here and there“, sagt sie. Manchmal kommt etwas aus der Tiefe an die Oberfläche, nach mehr als 90 Jahren, seltsame Wörter, zum Beispiel „Dingsbums“.






Rita Paul muss selbst lachen über die wundersamen Wege der Erinnerung. Sie lebt in der Gegenwart, nicht im Gestern. Das Hotel muss laufen nach der Corona-Krise. Die Dekoration im Haus muss stimmen, denn die Moden ändern sich. In ihrer Wohnung malt sie, und täglich liest sie die „New York Times“. Die Seniorchefin des Washington Square Hotels hat zu tun. Aber sie sperrt sich nicht gegen die Vergangenheit, sie redet auch über Schicksalsschläge und Menschheitsverbrechen.

Mit ihrer Tochter Judy kommt sie gerade aus dem Lokal nebenan vom Mittagessen. Ihr Hotel liegt am Waverly Place, einer kleinen Straße, wenig befahren, nur ein paar Studenten gehen hinüber zur New York University. Greenwich Village ist eine der schönsten Gegenden im Süden von Manhattan, friedlich, grün, ruhig. Vom Washington Square Park wehen Musikfetzen und Cannabisschwaden herüber.




Rita Paul kommt auch mit 97 Jahren noch täglich zur Arbeit in ihr Hotel.




Rita Paul hakt sich ein, für die Stufen in ihr Hotel, an der Rezeption vorbei, nach hinten, zur Bar. „Da ist Ruhe, da können wir reden, c’est mieux.“ Es ist sehr lange her, dass sie Deutsch im Alltag sprach. Als sie mit ihrer Familie 1933 aus Berlin nach Paris flüchtete, war sie sechs Jahre alt. Als sie 1940 aus Paris nach New York flüchteten, war sie zwölf. Das Französische blieb: Sie nehmen einmal pro Woche per Zoom an einem Französisch-Buchklub teil und reden oft mit ihren Verwandten in Frankreich. Warum sie so gern Französisch spricht? „Wegen Hitler.“ Er trieb ihr das Deutsche aus.

Ihr Vater stammte aus Polen. Er kam nach Berlin, um dort zu arbeiten. Wie er ihre Mutter traf? „Das weiß ich nicht.“ Hat sie ihre Eltern nie gefragt? „Habe ich nicht dran gedacht“, sagt Rita Paul. „Und meine Mutter hat nicht gern über Deutschland gesprochen. Deutschland existierte für sie nicht mehr.“

Aber es gibt noch Dokumente. Ihre Tochter Judy springt vom Tisch auf und holt die Heiratsurkunde ihrer Großeltern. „Da habe ich schon lange nicht mehr reingeschaut“, sagt Rita Paul. Laut dem Preußischen Standesamt Berlin-Wilmersdorf heiratete Jakob Puchalski, geboren am 18. Juli 1894, Beruf „Bautechniker“, Religion „mosaisch“, „wohnhaft zu Charlottenburg“, am 8. November 1921 Irma Edith Stern, geboren am 17. Februar 1902, „Versicherungsangestellte“, „mosaisch“, „wohnhaft zu Charlottenburg“. Und dann sie, im Nachtrag: „Kinder der unter I bezeichneten Ehegatten: Puchalski, Rita, 1. April 1927“. „I am an April Fool“, ruft Rita Paul. Ein Aprilscherz, ja, auch dieses deutsche Wort kommt jetzt hoch. „Ein Aprilscherz, darunter habe ich mein ganzes Leben gelitten“, sagt sie und lacht. Ein Aprilscherz von 97 Jahren.




Rita Paul kann die Handschrift des Standesbeamten von 1921 kaum entziffern. „Wie hieß noch mal diese Schrift“, fragt sie. Sütterlin! „Ja, Sütterlin, ich erinnere mich.“ Noch ein altes Wort, das wieder da ist, als wäre es gerade erst weg gewesen.

Ihr Vater arbeitete im Immobiliengeschäft. Rita wuchs in Charlottenburg auf. „An die erste Wohnung erinnere ich mich nur vage, da gab es eine Terrasse oder einen Wintergarten, den sie zum Schlafzimmer umgebaut hatten.“ Von dort zog die Familie an die Bismarckstraße, ebenfalls in Charlottenburg, in der Nähe der Oper. „Eine wunderbare Wohnung, an die erinnere ich mich gut. Aber das Haus gibt es nicht mehr.“



„Ich glaube nicht, dass mein Vater je für seine enteigneten Häuser entschädigt wurde.“

RITA PAUL



Das Glück hielt nicht lange. Als die Nazis Anfang 1933 an die Macht gekommen waren, musste die Familie flüchten. Sie ließen alles zurück. „Ich glaube nicht“, sagt Rita Paul, „dass mein Vater je für seine enteigneten Häuser entschädigt wurde.“ Rita, die erst kurz zuvor eingeschult worden war, zog mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder David nach Paris. Einfach war es dort nicht für die Flüchtlinge. „Einmal ging uns das Geld aus“, sagt Rita Paul. „Also gingen wir mit meinem Bruder, der Briefmarken sammelte, zu einer Sammlerbörse, und er verkaufte einige seiner besten Marken.“




Noch in Berlin: Rita Paul (damals Pachulski) mit ihrem Bruder David




In Paris verfolgten sie entsetzt die Erfolge des Nationalsozialismus. Sie brauchten eine Perspektive, bevor auch Frankreich unter die Kontrolle der Deutschen kam. Ihr Vater fuhr der Familie voraus: im Dezember 1938, mit dem französischen Passagierschiff Normandie, nach New York, wo schon Verwandte lebten. „Wir mussten die Erlaubnis der Franzosen einholen, damit wir zu meinem Vater ausreisen durften“, erinnert sich Rita Paul. „Sie stellten alle möglichen Forderungen.“

Erst im Februar 1940 kamen sie los, gerade noch rechtzeitig, bevor die Deutschen im Juni in Paris einmarschierten. Sie erinnert sich an seltsame Details: „Als wir endlich in den Zug steigen wollten, mussten wir noch einmal in unsere Wohnung zurück, weil meine Mutter ihren Pelzmantel vergessen hatte.“ Von Le Havre aus fuhr der Transatlantikdampfer SS De Grasse am 12. Februar los. Am 26. Februar liefen sie in den Hafen von New York ein, vorbei an der Freiheitsstatue. Viele jüdische Flüchtlinge waren an Bord – unter anderen der österreichische Schauspieler Leon Askin, der in Amerika eine neue Karriere beginnen sollte. „Und ein Mann, der einen Zirkus besaß, er hatte sogar Pferde dabei.“ War es für sie als Mädchen nicht traurig, Paris verlassen zu müssen? „Nein, ganz und gar nicht. Ich freute mich darauf, meinen Vater wiederzusehen. Außerdem wurde die Lage in Europa bedrohlicher.“

Ihren Hund ließen sie in Paris zurück, bei ihrer Tante, der Schwester ihrer Mutter, die in Frankreich bleiben musste. Die Eltern von Margaret Renate Uriewicz hatten zuvor in Palästina gelebt, im britischen Mandatsgebiet, so dass sie „staatenlos“ war, was alles kompliziert machte. Also musste Tante Margaret, die geschieden war, mit ihrem mittleren Kind Ruth in Paris bleiben. Ihr älterer Sohn Leo war nach England gegangen, zu seinem Vater, er entkam den Nazis und schloss sich später den „Freien Französischen Seestreitkräften“ von Charles de Gaulle an. Die jüngere Tochter Puppi war aufs Land geschickt worden, weg von Paris. Doch Tante Margaret und deren Tochter Ruth wurden von den Nazis aufgegriffen, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Ihre Namen sind auf einer Wand im Mémorial de la Shoah in Paris verzeichnet.




Rita Paul mit ihrer kleinen Cousine Puppi in Wien.




Puppi blieb von ihrer Schwester Ruth nur ein Brief. Nach dem Krieg hielt Rita Paul engen Kontakt zu ihrer Cousine, der Überlebenden, die einen Franzosen heiratete. Zweimal im Jahr reiste sie mit ihrer Tochter dorthin zu Besuch, und bis heute telefonieren sie immer wieder mit Puppis Söhnen und Enkelkindern, auf Französisch.

In New York begann ein neues Leben. Zunächst wohnte die Familie bei Verwandten in Brooklyn. Weil sie gerne zeichnete, studierte Rita Kunst und Mode und arbeitete für Bekleidungsunternehmen. Aber der Weg in ihr neues Leben führte sie mit Daniel Paul, den sie 1949 heiratete, über New Haven. „Daher stammte Daniel, da arbeitete er im Geschäft seines Vaters.“ Ihre Mutter hatte der Zweiundzwanzigjährigen nach der Hochzeit prophezeit: „Nach drei Wochen wirst du es dort hassen.“ Wie recht sie hatte! „Ich hatte in Paris gelebt, ich hatte in New York gelebt – und nun war ich in New Haven, in Connecticut, neun unglückliche Jahre lang.“ Erst als sie zwei Töchter geboren und ihren Mann überzeugt hatte, zogen sie zurück nach New York. „Dort war er dann auch glücklich.“



„Ich hatte in Paris gelebt, ich hatte in New York gelebt – und nun war ich in New Haven, in Connecticut, neun unglückliche Jahre lang.“

RITA PAUL



Zwei Töchter? „Ja. Wir hatten noch eine ältere Tochter. Sie war drogenabhängig und beging schließlich Suizid. Wir haben alles versucht. Sie hatte zwei Drogensüchtige geheiratet. Und sie war HIV-positiv. Es war schlimm.“ Wieder hatte das Schicksal ihr viel zugemutet. „Aber kennen Sie jemanden, der in seinem Leben nicht gelitten hat?“

Ihr Vater arbeitete auch in New York im Immobiliengeschäft. Mit ihrem Mann stieg Rita Paul schließlich ebenfalls ein. 1973 kauften sie das Hotel Earle, das schon immer prominente Gäste hatte: 1918 Ernest Hemingway, in den Fünfzigern Dylan Thomas, 1964 die Rolling Stones. Ebenfalls 1964 checkten Bob Dylan und Joan Baez ein, in Zimmer 305. Ein Jahrzehnt später blickte Joan Baez in ihrem Lied „Diamonds & Rust“ auf ihre Beziehung zu Dylan zurück: „Now I see you standing / With brown leaves falling around / And snow in your hair / Now you’re smiling out the window / Of that crummy hotel / Over Washington Square“. Das war ihr Hotel, und das klang nicht schön – “crummy“ heißt „schäbig“.




Ihre Werke: Rita Paul, die schon immer gern malte, hat ihr Hotel künstlerisch gestaltet.




Aber nun waren ja sie da. Sie renovierten das Haus und benannten es 1986 in Washington Square Hotel um. Rita Paul malte Bilder im Stil der Zeit, in der sie geboren wurde, „für ein neues Ambiente“. Seit 1980 lebten sie selbst in ihrem Hotel, zwölf Jahre lang. Aber weil sie die Einnahmen gut brauchen konnten, wandelten sie die Räume in Hotelzimmer um und zogen in eine Wohnung um die Ecke. Daniel Paul starb 2014, im Alter von 92 Jahren. Judy Paul lebt mit ihrem Mann Marc Garrett, der auch im Hotel arbeitet, fußläufig entfernt.




Krisen und Kriege hat das Washington Square Hotel überstanden. Aber Corona brachte es an den Rand. „New York war das Epizentrum“, sagt Judy Paul. „Die Infektionen verbreiteten sich rasend schnell. Vor dem Krankenhaus in der Nähe standen Kühllastwagen für die Leichen.“ Das Hotel blieb immer geöffnet. „Es gab Nächte, in denen wir keinen einzigen Gast hatten, niemanden“, sagt Judy Paul. Touristen kamen nicht mehr. Und die Universitäten – The New School, Cooper Union und New York University – waren geschlossen; eigentlich sorgen sie für ein gutes Geschäft, weil die Eltern ihre Kinder zur Universität bringen und sie immer wieder besuchen, spätestens zur Examensfeier. Die Kosten im Hotel liefen weiter, sie mussten Angestellte entlassen, aber ein staatliches Darlehen half. Erst seit April 2022 gab es wieder mehr Buchungen, sagt Judy Paul. „Das waren zwei harte Jahre.“



„Für unabhängige Hotels wird die Lage schwieriger“

JUDY PAUL



In New York gehören sie zu den wenigen inhabergeführten Hotels, die nicht zu einer Kette gehören. „Für unabhängige Hotels wird die Lage schwieriger“, sagt Judy Paul. „Teil einer Kette zu sein macht vieles einfacher, Reservierungssysteme oder Versicherungen zum Beispiel. Wir müssen uns um alles selbst kümmern.“ Auch das stehen sie gemeinsam durch, Judy Paul, die Chefin, und ihre Mutter, ihr „Artistic Director“.

Rita Paul ist eine amerikanische Patriotin: „Ich bin sehr stolz auf dieses Land. Besonders seit der Fernsehdebatte von Kamala Harris und Donald Trump.“ Die demokratische Kandidatin hat sie begeistert. Rita Paul engagiert sich für den PBS, den öffentlichen Fernsehsender. Die beiden sind Mitglieder bei den „Friends of the News Hour“ und spenden jährlich für die Nachrichtensendung, die sie so lieben.








Hetze gegen Einwanderer ertragen sie nicht. Rita Paul, die Einwanderin, ist dauernd von Einwanderern umgeben. Die Frau am Empfang, die aus Lateinamerika stammt, steht dort schon seit 27 Jahren. Der Geschäftsführer stammt aus Nigeria: Sonny Christopher Ajuluchukwu begann als einfacher Angestellter und leitet das Hotel seit Jahrzehnten. Einwanderung sei doch schon aus demographischen Gründen wichtig fürs Geschäft, sagt Rita Paul. „Wer arbeitet noch in den Fabriken? Und wer steht hier in der Küche? Wenn wir keine Latinos hätten, müssten wir unsere Küche schließen.“

Judy Paul erzählt, während der Trump-Jahre habe sie sich überlegt, ob sie sich um die deutsche Staatsbürgerschaft bewerben sollten. Aber dann hörten sie immer wieder Nachrichten aus Deutschland über das Erstarken der AfD.



„Man muss das tun, was man gerne tut.“

RITA PAUL



„Wenn Menschen in ihrem Leben Schwierigkeiten haben“, sagt Judy Paul, „dann suchen sie nach jemandem, dem sie die Schuld geben können.“ Ihre Mutter nickt. Was hat sie anders gemacht? Wie hält sie durch? Was ist das Geheimnis ihres Lebens? „Man muss das tun, was man gerne tut“, sagt Rita Paul. Sie liest, malt, dekoriert, baut um und räumt auf. „Es gab nichts, das mich aufhalten konnte.“






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