Wo das Meer sich Spaniens Küsten holt | ABC-Z
Über der Gischt der Wellen ist die kleine Spitze kaum zu erkennen. Das Leuchtfeuer in der Ferne wirkt klein, fast unscheinbar. Ganz anders als sein Vorgänger, den sich vor 60 Jahren das Mittelmeer holte. Fast ein Jahrhundert lang erhob sich auf der Landspitze an der Mündung des Ebro-Deltas ein gut fünfzig Meter hoher Leuchtturm aus Metall.
Der Faro de la Buda ähnelte dem Eiffelturm. Er war ein beliebtes Ausflugsziel und über den Strand zu Fuß erreichbar. Heute braucht man ein Boot, um seinen kleinen Nachfolger an etwa der gleichen Stelle zu erreichen. Knapp fünf Kilometer von den letzten Sandbänken entfernt, ragt er aus dem Mittelmeer.
Spaniens Küsten verschwinden. Wo der Ebro, der zweitgrößte Fluss, ins Meer strömt, lässt sich fast live beobachten, was der ganzen Iberischen Halbinsel droht. „Einer der kritischsten Punkte für das Überleben der Ufer liegt im Delta, das der Klimawandel buchstäblich verschlingt“, warnt die Biologin Mariajo Caballero.
Die Studie, die sie im Sommer für die Umweltorganisation Greenpeace verfasste, rief in Spanien große Beunruhigung hervor: Der Meeresspiegel steigt, die Wellen nagen an den Stränden – praktisch überall, aber besonders heftig in Katalonien und der Nachbarregion Valencia. Dort sind schon mehr als 60 Prozent der Sandstrände betroffen.
Spaniens wichtigstes Kapital ist in Gefahr
„Paradies der Biodiversität“ nennen Werbeslogans das Ebro-Delta mit seinen endlosen Reisfeldern und einsamen Sandstränden. Nach dem Nil ist es das zweitgrößte Mündungsgebiet im Mittelmeer. Das Zusammenspiel zwischen Ebro und Meer ließ in Katalonien ein einmaliges, aber äußerst empfindliches Ökosystem entstehen. Im Herbst flattern die Monarchfalter über die Dünen. Die Flamingos staksen durch die Feuchtgebiete. Zugvögel lieben das Reisanbaugebiet. Die ersten Überwinterer sind eingetroffen. Mehr als 360 Vogelarten zählt man dort.
Nicht nur dieser Reichtum könnte verloren gehen. Auch Spaniens wichtigstes Kapital ist in Gefahr. Das Land verdankt sein Wirtschaftswachstum den jährlich bald hundert Millionen Touristen, die auf der Suche nach „Sol y playa“ an die Strände kommen. Doch diese werden immer kleiner werden, wie die Playa de la Marquesa am Ostufer des Deltas.
Nach dem Baden kehren viele im Restaurant Vascos ein. Bei den Schwestern Otamendi stehen lokaler Aal und Muscheln auf der Speisekarte. Dazu Reis von den Plantagen, die gleich hinter dem Strand beginnen. Ihr baskischer Vater hatte sich in das Stück Küste verliebt und dort vor 70 Jahren ein großes Grundstück gekauft. Er fischte und pflanzte Reis, die Mutter machte den Chiringuito, die Strandbar, auf.
Trotz guter Reisernte unzufrieden
Damals lag das Lokal einen Kilometer von der Brandung entfernt. Heute gleicht es einer Festung. Ein Wall aus großen Felsen schützt den flachen Bau. Er ist so hoch, dass drinnen von den Tischen das Meer nicht mehr zu sehen ist, das gegen diese letzte Verteidigungslinie anstürmt. Jedes Jahr holt es sich mindestes drei weitere Meter. An den berühmten Dünen, die an die Sahara erinnern, lecken schon die Wellen.
Die goldgelb schimmernden Reisfelder unmittelbar dahinter liegen unter dem Meeresspiegel. Vögel umschwärmen die schweren Mähdrescher. Mit Raupenketten an den Vorderrädern ernten sie auf dem schlammigen Boden den Reis, bevor die Pflüge folgen. Die Ernte im zweitgrößten Anbaugebiet Spaniens ist inzwischen fast vorüber und ergiebig wie lange nicht mehr. Nach Jahren großer Dürre hat es endlich wieder geregnet.
Alejandro Morales ist nicht zufrieden, obwohl sich die riesigen Reissilos füllen, die sich vor seinem Büro in Amposta erheben. Er ist der Präsident der größten Kooperative. Die 600 Mitglieder von Montsia produzieren in guten Jahren bis zu 40.000 Tonnen Reis. „Der Klimawandel betrifft uns stark. Wenn es so weitergeht, werden wir die ersten Klimaflüchtlinge sein“, befürchtet er.
Bisher dienten die Strände und Dünen als natürliche Barrieren gegen Überflutungen und Unwetter, die immer häufiger werden. Sie bremsten auch das Meerwasser. Jetzt dringt es zunehmend in die Böden, lässt ihren Salzgehalt steigen und macht sie für die Bauern unbrauchbar. Reis kann darauf nur in der Schicht aus Süßwasser darüber gedeihen, das ein weitverzweigtes Bewässerungssystem aus dem Landesinnern liefert. „Wenn nichts geschieht, verlieren wir schon bis zum Ende des Jahrzehnts mehr als ein Viertel der Anbaufläche“, sagt Morales. Und er schimpft auf die untätigen Politiker: Das Delta liege halt zu weit von Barcelona, Valencia und Madrid entfernt, vermutet er.
Dabei ist nicht nur für den Präsidenten der Kooperative klar, was zu tun ist. In der Gegend schwärmt man von den Niederlanden, wo Küstenschutz seit Jahrhunderten für den Staat oberste Priorität habe – nicht die nächste Wahl oder Fußball, wie in Spanien: Ein großer von Deichen geschützter Polder könnte das Delta retten, dem der Anstieg des Meeresspiegels zusetzt.
Es kommen keine Sedimente mehr nach
Aber die Gegend hat noch ein zweites, von Menschen verursachtes Problem. Im vergangenen Jahrhundert zähmte man den Ebro mit zahllosen Staumauern. Er treibt Kraftwerke an, versorgt Anlieger und Bauern mit Wasser. Früher schleppte der fast tausend Kilometer lange Fluss jedes Jahr Hunderttausende Tonnen Sand, Schlamm und Steine bis ans Mittelmeer. Sie ließen das fruchtbare und feuchte Land wachsen. Im 19. Jahrhundert pflanzten Bauern den ersten Reis für die Paella, eines der spanischen Nationalgerichte.
Die Sedimente konnten die Erosion der Küsten ausgleichen. Associació Sediments heißt eine Bürgerinitiative, die den Schlamm aus den Bergen zurückwill, der zum Beispiel auch am Ufer bei Valencia fehlt. „Der Klimawandel beschleunigt das Verschwinden des Deltas. Der Fluss hat es verlernt, gegen das Meer zu kämpfen. Das Meer siegt“, warnt Marc Ibeas. Er ist Agraringenieur von Prodelta, einem Zusammenschluss der wichtigsten Produzenten. Sein Büro liegt neben einer Pumpstation, die Süßwasser auf die umliegenden Reisfelder leitet.
Ibeas breitet eine Karte aus. Gelb sind die Reisfelder, die sich auf mehr als 60 Prozent des Deltas erstrecken. Dunkelgrün sind die Zonen, die bis zu einem halben Meter unter dem Meeresspiegel liegen. „Sie sind besonders verletzlich und könnten in einigen Jahrzehnten verschwunden sein“, sagt er. Das gilt auch für alle Lagunen und die Fangar-Bucht, wo Austern und andere Muscheln gezüchtet werden.
Strände könnten schon bald komplett verschwinden
Warnende Beispiele sind die beiden wichtigsten Naturschutzgebiete: Die Illa de Buda, auf der einst der Leuchtturm stand, und die Illa de San Antoni haben seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts jeweils gut 30 beziehungsweise mehr als 80 Prozent ihrer Fläche verloren. Die Küste zog sich um zwei Kilometer zurück. „Wie den Deltas wird es in Spanien vielen Ufern gehen, wenn man nicht schnell etwas unternimmt“, sagt Ibeas.
Die katalanische Regionalregierung hat ihr Zentrum für Klimaresilienz in Amposta an der Ebro-Mündung eingerichtet. Wissenschaftler studieren dort, wie sich Menschen an die Folgen der globalen Erwärmung anpassen können und was geschehen kann, wenn sie es nicht tun. Von einem „Tsunami im Zeitlupentempo“ spricht Direktor Carles Ibañez. Der Klimawandel schreite nicht einfach langsam fort, sondern werde sich beschleunigen: „Es ist politisch und wirtschaftlich absurd, jetzt nicht zu handeln. Nichts zu tun, macht alles später nur noch teurer.“
Laut einer Studie seines Instituts könnten schon in den kommenden zehn Jahren allein in Katalonien neun Prozent der Strände komplett verschwunden sein. Mehr als die Hälfte wären dann so schmal, dass kaum noch Platz für Badetücher und Sonnenschirme bleiben würde. Vor der Badesaison werden an der Costa Brava und Barcelona schon jetzt riesige Mengen Sand an die Ufer gebaggert, die die Winterstürme bald wieder fortspülen. Am Delta will die katalanische Regionalregierung 116 Millionen Euro ausgeben, um die am stärksten bedrohten Strände mit Millionen Kubikmeter Sand zu bewahren.
Eine Strandpromenade wurde schon verlegt
Breite Sandstrände sind der beste Küstenschutz. Doch die gibt es besonders an den Badeorten am Mittelmeer kaum noch. Hotels, Restaurants und Ferienwohnungen haben sich bis ganz vorn gedrängt. „Der beste Deich ist der Strand, sonst ist Hinterland längerfristig nicht zu halten. Um die Wucht der heftiger werdenden Stürme und Unwetter zu bremsen, muss er breit genug sein“, sagt der Biologe Ibañez. Die Menschen seien von einer stabilen Meereshöhe ausgegangen, „aber sie hat sich immer verändert und wird das auch künftig tun. Und zwar exponentiell, nicht linear.“
Erst „Gloria“ hat die letzten Küstenbewohner wachgerüttelt. So hieß der verheerende Wintersturm im Januar 2020, der meteorologische Rekorde brach und in Spanien und Südfrankreich eine Spur der Verwüstung hinterließ. Bis zu 13 Meter hohe Wellen türmten sich vor dem Delta auf, das vom Meer zum großen Teil überflutetet wurde.
In Calafell nördlich von Tarragona gab sich die Stadtverwaltung schon geschlagen. Sie riss im Januar einen Teil der Strandpromenade ab und verlegte sie weiter ins Landesinnere. Zuvor bepflanzte sie als Schutz eine künstliche Düne mit Gräsern. Doch im Wettlauf mit dem Klimawandel könnten solche kleinen Maßnahmen zur Sisyphosarbeit werden. Barcelona hat allein in diesem Sommer im Vergleich zum Vorjahr 20 Prozent seiner Sandstrände verloren. Nördlich der Hafenstadt verläuft die 1848 gebaute Regionalbahn direkt am Ufer. Wenn es stürmt, schlagen die Wellen über die Gleise und unterspülen sie. Ihre Verlegung ist wohl nur noch eine Frage der Zeit.
Mehr Stürme und starke Regenfälle
Bei der Kalkulation der Folgen des Anstiegs des Meeresspiegels greifen Wissenschaftler auf die Bruun-Regel zurück. Demnach weicht die Küste für jeden Zentimeter, um den das Meer steigt, einen Meter zurück. Bis spätestens 2030 wird das laut Greenpeace an fast allen Küsten bemerkbar sein: bei Almería, Málaga genauso wie am Atlantik in Huelva, Cádiz, Vigo, A Coruña, Gijón, Santander, Bilbao und in Las Palmas, Teneriffa und auf den Balearen.
Das ozeanografische Forschungsinstitut der Inseln warnt davor, dass in den nächsten 70 Jahren ein Fünftel der Balearenstrände im Meer versinken und die Küste jedes Jahr bis zu 20 Zentimeter zurückweichen könnte. Allein auf Mallorca könnte das zum Verlust von 25 Stränden führen.
Mit der Meereshöhe steigt seit 2022 auch die Wassertemperatur. Wissenschaftler sprechen von marinen Hitzewellen. Der Sauerstoff geht zurück. Das bedeutet immensen Stress für die Meeresbewohner. Das wärmer werdende Wasser verdampft und stößt auf kalte Luftschichten. Das verursacht immer mehr Stürme und sintflutartige Regenfälle.
Immer mehr Urlauber, die das Delta erhalten wollen
Tausende Wohnungen liegen in potentiellen Überschwemmungsgebieten. Trotzdem baut man bei Marbella und Málaga gerade die letzten freien Küstenstücke zu. „Die Wellen haben schon lange keinen Auslauf mehr. Überall stellen sich ihnen Deiche, Wellenbrecher, Strandpromenaden und Jachthäfen in den Weg. Die Küsten können uns schützen, aber wir behandeln sie schlecht“, sagt Mariajo Caballero von Greenpeace.
Aber es gibt Ausnahmen, denn es geht auch anders. An den langsam strömenden Ebro zieht es immer mehr Urlauber, die das Delta erhalten wollen, wie es ist. Sie kommen mit Fahrrädern und Fernrohren, um die Vögel zu beobachten. Auf den Feldern zwischen den Lagunen, Schilfrohrfeldern und Salzwiesen wächst auf der Finca Riet Vell ökologisch angebauter Reis. Juan Carlos Cirera ist einer der Pioniere. Vor mehr als 20 Jahren hat er für die Umweltschutzorganisation SEO Birdlife begonnen, die Farm in dem Feuchtgebiet aufzubauen.
Wenn er kann, schaut er wie viele Besucher in der Beobachtungsstation am Ufer des kleinen Sees vorbei, der an diesem Nachmittag voller Flamingos ist. Freiwillige aus aller Welt arbeiten mit und haben geholfen, dass der ohne Kunstdünger angebaute Bioreis inzwischen auch in Deutschland zu kaufen ist. Juan Carlos Cirera könnte zufrieden sein. Nach der Trockenheit der vergangenen Jahre zeichnet sich eine gute Ernte ab.
Er deutet auf eine kleine Metallkonstruktion, ein Messpunkt, mit dessen Hilfe Satelliten die exakte Bodenhöhe ermitteln. „Bis zu vier Millimeter senkt sich das Delta jedes Jahr. Gleichzeitig steigt der Meeresspiegel um mindestens vier Millimeter. Das klingt nicht viel, aber das Meer kommt uns immer näher“, sagt er. Ob die Wellen sich auch dieses kleine Modellprojekt holen? Cirera möchte darüber jetzt lieber nicht nachdenken.