Prostatakrebs: Vorsorgeuntersuchungen – Etwa jeder zweite Betroffene wird unnötig behandelt |ABC-Z
Prostatakrebs ist bei Männern die häufigste Tumorart. Viele Fälle ließen sich frühzeitig erkennen. Doch seit Jahren ist umstritten, ob der sogenannte PSA-Wert dafür taugt. Experten sagen: Etwa jeder zweite Betroffene wird unnötig behandelt.
Die Frage stellen sich wohl die meisten Männer irgendwann – und trotz zahlloser Studien lässt sie sich nur schwer beantworten: Wie sinnvoll ist die Früherkennung von Prostatakrebs per PSA-Test?
Für die meisten Urologen ist die Antwort klar: „Mit jährlich fast 66.000 Neuerkrankungen und mehr als 15.000 Todesfällen ist Prostatakrebs bei Männern die häufigste Tumorart und die zweithäufigste krebsbezogene Todesursache“, sagt der Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU), Axel Merseburger vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck.
Die DGU empfiehlt den PSA-Test seit Jahren und plädiert für seine Anerkennung als Kassenleistung – bisher müssen Patienten die Kosten von etwa 25 bis 35 Euro selbst zahlen. „Trotz nachgewiesener Effektivität eines organisierten PSA-basierten Screenings zur Senkung der Prostatakrebs-bedingten Mortalität existiert gegenwärtig in Deutschland kein entsprechendes Programm, das von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen wird“, kritisierte kürzlich der Mannheimer Urologe Maurice Stephan Michel vom DGU-Vorstand.
Details eines solchen Programms werden schon seit Jahren diskutiert. „Man muss vorsichtig sein mit dem PSA-Wert“, sagt Peter Albers, Leiter der Klinik für Urologie am Uniklinikum Düsseldorf und tätig am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. „Das Problem sind viele, durch den alleinigen PSA-Test ausgelöste, unnötige Diagnosen und Therapien von Prostatakarzinomen, die lange Zeit unbehandelt bleiben könnten – oft lebenslang.“ Etwa jeder zweite Betroffene, so Albers, werde unnötig behandelt.
Worum geht es? In Deutschland gibt es kein Programm zur Früherkennung von Prostatakrebs – im Gegensatz etwa zum Mammografie-Screening für Brustkrebs. Ab dem Alter von 45 Jahren zahlen die gesetzlichen Kassen zwar eine Tastuntersuchung der Vorsteherdrüse vom Darm aus. Aber: „Der Nutzen dieser Untersuchung ist höchst fragwürdig“, sagt Stefan Sauerland vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Auch das DKFZ beklagt eine zu geringe Empfindlichkeit und zu viele Fehlalarme.
Der PSA-Test dagegen misst im Blut den Gehalt des prostataspezifischen Antigens (PSA). Dieses Enzym wird von der Prostata gebildet, um den Samen zu verflüssigen. Tumore können dafür sorgen, dass es ins Blut gelangt. Je höher der Wert, der mit dem Alter ohnehin zunimmt, desto größer das Risiko, dass ein Tumor in der Prostata wächst.
Dass PSA der beste Marker für Prostatakrebs ist, ist unstrittig. Aber ob er gut genug ist für eine bundesweite, kassenfinanzierte Früherkennung, darüber herrscht seit Jahrzehnten Streit. Ein Problem: Weil auch andere Faktoren – etwa Sex, Radfahren, gutartige Vergrößerungen des Organs und insbesondere Entzündungen – die Konzentration steigern können, ist ein hoher PSA-Wert kein zuverlässiger Hinweis auf einen Tumor. Und umgekehrt bietet ein niedriger Wert keine Gewähr für Tumorfreiheit. Gewissheit verschaffen soll bei einem Verdacht letztlich eine Biopsie, bei der eine Probe aus dem Organ gestanzt und analysiert wird.
Bisher läuft die Früherkennung planlos: Wenn überhaupt, dann lassen viele Männer den Test erst im höheren Alter machen, wenn sie besorgt sind. Dann zeigt sich mitunter ein weiteres Problem: „Mit dem PSA-Test kann man viele Karzinome entdecken“, sagt Albers. „Aber die niedriggradig aggressiven Tumore überwiegen dabei – und die wollen wir gar nicht finden.“ Denn: Bei weitem nicht jedes Prostatakarzinom verursacht Probleme.
Diagnose und Therapie können dagegen viel Ungemach nach sich ziehen – seelisch wie körperlich. „Viele Männer machen den Test, ohne dass ihnen bewusst ist, worauf sie sich einlassen“, sagt IQWiG-Experte Sauerland. Schon die Biopsie kann belasten – auch wenn sie in etwa zwei von drei Fällen Entwarnung gibt.
Und was eine operative Entfernung bedeuten kann, erläutert der DKFZ-Experte Albers: Zu den möglichen Nachwirkungen zählt eine Harninkontinenz. Noch weitaus häufiger scheint Impotenz zu sein: Eine Dissertation aus Oberhausen ergab anhand der Daten von 222 Patienten, dass fast zwei Drittel von ihnen nach der Operation Erektionsstörungen hatten – selbst nach einem nervenschonenden Eingriff.
Das sind weit mehr als bisher angenommen. „Wahrscheinlich spiegeln wir erstmals die tatsächliche Versorgungsrealität mit unzufriedenstellenden Erektionsraten nach nerverhaltender Operation wider“, schreibt Autor Shatlyk Kheiderov. Eine größere Studie unter Mitwirkung des Klinikums Oberhausen untersucht diese Nebenwirkungen bei über 20.000 Männern.
In welchem Verhältnis Vor- und Nachteile des PSA-Tests stehen können, zeigte kürzlich eine britische Studie im Fachjournal „JAMA“. Das Team um Richard Martin von der Universität Bristol hatte Daten von rund 400.000 Männern ausgewertet, von denen sich etwa die Hälfte im Alter von 50 bis 69 Jahren einem einzelnen PSA-Test unterzog. Nach 15 Jahren waren in dieser Gruppe knapp 7 von 1.000 Männern an Prostatakrebs gestorben, in der Kontrollgruppe ohne Test waren es knapp 8. Umgekehrt führte der Test zu vielen Überdiagnosen – also Diagnosen von Karzinomen, die zu Lebzeiten keine Probleme verursacht hätten.
Diagnosen im jungen Alter viel aussagekräftiger
Die Studie hat zwar Schwächen, etwa dass der PSA-Wert nur einmal erhoben wurde. Dennoch: Die aktuelle Datenlage fasst Ulrike Haug vom Bremer Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) so zusammen. „Studien zeigen, dass PSA-Untersuchungen die Mortalität durch Prostatakarzinome um 22 Prozent senken können, über den Zeitraum von 16 Jahren“, sagt die Epidemiologin. „Aber in dieser Zeit wird die Krankheit pro vermiedenem Todesfall bei 18 Männern unnötig diagnostiziert. Das ist inakzeptabel.“
Ein Ausweg aus dem Dilemma könnte darin bestehen, mit zusätzlicher Diagnostik nur die aggressiven Karzinome aufzuspüren, nicht aber die Vielzahl der ungefährlichen Tumore. Die Bestimmung des PSA-Wertes könne durchaus sinnvoll sein, betont Albers, aber nur bei einem zielgerichteten Vorgehen.
Zur Abklärung beitragen könnte in Zweifelsfällen die sogenannte multiparametrische Magnetresonanztomografie (mp-MRT), für deren Einsatz auch die Deutsche Gesellschaft für Urologie plädiert. Dies kann das Auffinden von wenig aggressiven Tumoren deutlich senken – zwei schwedischen Studien zufolge um etwa ein Drittel bis um die Hälfte.
Derzeit läuft unter Albers‘ Federführung die deutsche Probase-Studie, deren Zwischenresultate das Fachblatt „European Urology“ im Mai veröffentlichte. Hier startete das Screening bei den über 46.000 Teilnehmern im Alter von 45 und 50 Jahren – und dieses relativ junge Alter ist laut Albers entscheidend: Dann werde der PSA-Wert noch nicht durch die altersbedingte Vergrößerung der Prostata beeinflusst – er sei also wesentlich aussagekräftiger. Zudem bestehe bei in jungem Alter gefundenen Tumoren eher Handlungsbedarf, weil sie tendenziell mehr Zeit haben, eines Tages gefährlich zu werden.
In der – noch bis 2035 laufenden – Studie fielen lediglich knapp 0,8 Prozent der Männer mit einem PSA-Wert ab 3 in die Hochrisikogruppe. Ihnen wurde empfohlen, sich einem MRT samt Biopsie zu unterziehen.
Gemäß der – erst im Frühjahr beschlossenen – neuen deutschen Leitlinie sollen Männer mit niedriggradigen Tumoren nicht mehr therapiert werden, sondern nur noch überwacht. „Diese Menschen profitieren nicht von einer sofortigen Therapie“, erläutert Albers. Doch die Praxis sieht anders aus: Den meisten dieser Patienten werde noch immer eine Therapie empfohlen, sagt er: „Die Hälfte der Männer, die wir zurzeit operieren, müssten gar nicht behandelt werden.“
Ein jüngst im „Journal of the National Cancer Institute“ veröffentlichter Artikel regt nun an, niedriggradige Tumore – GG1 oder ISUP-Gruppe 1 genannt – nicht mehr „Krebs“ zu nennen. „Autopsie-Studien zeigen, dass GG1 bei älteren Männern so gängig ist, dass dies vielleicht ein normaler Aspekt des Alterns ist“, betont die Gruppe um Matthew Cooperberg von der University of California in San Francisco. Albers stimmt zu: „Es wäre tatsächlich sehr sinnvoll, eine andere Bezeichnung für diese Frühform zu finden, um Ängste zu reduzieren.“
Dies könnte das Verhältnis von Vor- und Nachteilen von PSA-Tests stark verändern, betont das Team um Cooperberg: „Wenn eine Namensänderung die Raten von Überdiagnosen und Übertherapien von GG1 drastisch senken würde, könnte sich das Nutzen-Schaden-Verhältnis so ändern, dass sich ein breiterer Einsatz der Früherkennung rechtfertigen ließe.“
dpa/vem