Der Westen und die neue Weltordnung – Politik | ABC-Z
SZ: Herr Eide, Sie sind schon zum zweiten Mal norwegischer Außenminister. Wie hat sich der Job verändert?
Espen Barth Eide: Oh, sehr drastisch. Während meiner ersten Amtszeit, also 2012 und 2013, hatte Russland noch nicht die Krim erobert. Ein richtig großer Krieg war erst recht nicht in Sicht. Es gab damals dank einer Initiative des damaligen US-Außenministers John Kerry auch kurze Hoffnung auf dauerhaften Frieden im Nahen Osten. Drittens war der Westen noch immer weltweit führend, politisch wie ökonomisch.
Und heute?
In unserer unmittelbaren Nachbarschaft wütet ein brutaler Krieg, die Situation im Nahen Osten war wohl noch nie so düster wie gerade jetzt, und der Westen verliert seine Glaubwürdigkeit und weltweit an Bedeutung, was auch mit diesen Kriegen zu tun hat. Mein Job als Außenminister ist also anspruchsvoller geworden, und meine Hauptaufgabe besteht darin, darauf zu achten, dass wir unsere Kernprinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und des internationalen Rechts mit Nachdruck vertreten.
Wir kommen gleich zu den beiden Kriegen. Aber was die fünf nordischen Länder betrifft, was hat sich in der Beziehung zueinander geändert?
Wenn wir uns früher trafen, war das ein freundlich entspanntes Beieinander, bei dem es bald um Syrien oder China ging, nichts, was uns direkt betraf. Jetzt haben wir permanent intensive Treffen, Schweden und Finnland sind neu in der Nato, was unsere Sicherheitslandschaft massiv verändert hat. Norwegen hatte zuvor keine Landesgrenze zu einem anderen Nato-Land, wir waren das äußerste Ende im Norden und Osten des Bündnisses, wir hatten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die einzige direkte Grenze mit Russland. Dass Schweden und Finnland dabei sind, hat unsere Sicherheitslage enorm verbessert.
Sie waren gerade zu fünft in der Ukraine…
Ja, in Odessa und Kiew. Es ist wirklich hart, all die Verwundeten in den Militärkrankenhäusern. Überall Zerstörung. Wir waren jede einzelne Nacht im Bunker, ständig gab es Bombenangriffe. Wir haben uns Präsident Selenskijs Siegesplan angehört, der ehrgeizig klingt, aber wir müssen ernsthaft diskutieren, wie wir sicherstellen, dass die Ukraine siegt, weil wir nicht in einem Europa leben wollen, in dem Putin die Oberhand hat. Ja, es ist teuer, Putin am Sieg zu hindern, aber es wird noch teurer, wenn er sich durchsetzt.
Sie haben gesagt, dass die Ukraine nicht mit einer Hand auf dem Rücken kämpfen kann. Was muss geschehen?
Russland setzt auf Zermürbung, es ist ein Abnutzungskrieg. Die Ukraine wird aber nie mehr Menschen, mehr Panzer, mehr Munition als Russland zur Verfügung haben. Also muss sie befähigt werden, militärisch die Initiative zu ergreifen. Wir müssen den Einsatz modernster Waffen gegen den Feind erlauben.
Auch auf russischem Gebiet?
Wo auch immer der Feind ist. Die einzige Einschränkung: Die Ukraine muss sich an das Völkerrecht und das humanitäre Recht halten.
Sie haben dem Westen seit Ausbruch des Gaza-Krieges mehrmals vorgeworfen, mit zweierlei Maß zu messen. Worin besteht die Doppelmoral?
Ich habe in der UN-Generalversammlung gesagt, dass wir für das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte eintreten müssen, wo immer wir sie verletzt sehen. Wenn unsere Gegner sie verletzen, müssen wir unsere Stimme erheben; wenn unsere Freunde sie verletzen, müssen wir das ebenfalls tun. Wir wollen, dass alle Israelis in Sicherheit leben, aber die israelische Armee muss sich an die Spielregeln halten. Wenn wir das nicht klar sagen, entsteht in der arabischen Welt und im globalen Süden der Eindruck, dass unsere Werte gar nicht universell sind, sondern eine Art Menü, aus dem wir auswählen, je nachdem, wo gerade Krieg stattfindet. Das ist für mich einer der Gründe, warum wir eine Schwächung der Autorität des Westens in der Welt erleben.
Aber Russland hat die Ukraine ohne Grund überfallen, Israel hat sich gegen den Terrorangriff vom 7. Oktober zur Wehr gesetzt.
Das setze ich auch gar nicht gleich, Israel wurde brutal von Terroristen überfallen. Aber es gibt im Krieg konkrete Regeln und Verbote. Ja, es könnte ein Terrorist in diesem Zelt sein – aber man kann nicht ganze Flüchtlingslager in Gaza bombardieren.
Als Sie vor sechs Monaten gefragt wurden, ob eine Zweistaatenlösung im Nahen Osten überhaupt noch möglich ist, sagten Sie paradoxerweise, dass Sie jetzt mehr Hoffnung haben als noch vor zwei Jahren. Ist das immer noch der Fall?
Ja. Weil ich glaube, dass dieses Drama zu einer Katharsis führen wird. Es ist so dramatisch, dass viele Akteure zu erkennen beginnen, dass wir einen Nachkriegsplan brauchen, der aus der ewigen Abfolge von Krieg, Waffenstillstand, neuem Krieg, Waffenstillstand herausführt.
Sie haben mit mehreren anderen, auch arabischen Außenministern zusammen an solch einem Plan gearbeitet. Was sieht der vor?
Es muss einen palästinensischen Staat geben. Als Teil einer Zweistaatenlösung mit Sicherheitsgarantien für Israel und für Palästina. Aber wir brauchen einen umfassenden Plan für die Region: echte Garantien für Israel und dessen Sicherheit durch seine arabischen Nachbarn. Eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien. Einen palästinensischen Staat, der auf dem Versprechen fußt, die Waffen endgültig niederzulegen. Und Iran muss als Terrorunterstützer zurückgedrängt werden. Alles schwer vorstellbar, aber wenn der Krieg aufhört, scheint mir dieser arabisch initiierte Plan die sinnvollste Lösung zu sein.
Norwegen hat im Frühjahr Palästina als Staat anerkannt. Warum ist das so wichtig?
Wir sind uns völlig bewusst, dass dieser Staat nicht auf magische Weise entsteht, nur weil man ihn anerkennt. Die Idee war, etwas Licht in diesen dunklen Tunnel zu bringen und zu zeigen, dass es westliche Länder gibt – uns, Irland, Spanien –, die prinzipiell bereit sind zu sagen, dass wir den Status von Palästina anheben werden. Auch in den UN bewegt sich etwas in dieser Richtung. Palästina ist kein Vollmitglied, aber sie haben dort jetzt eine stärkere Präsenz als noch vor einem Jahr.