Atomausstieg? Großbritannien baut lieber neue Kernkraftwerke | ABC-Z
Als erstes G-7-Land hat Großbritannien sämtliche Kohlekraftwerke abgeschaltet. Dafür setzt die Arbeiterpartei auf einen Schritt, den Olaf Scholz kategorisch ausschließt: den Bau neuer, moderner Reaktoren. Allerdings gibt es gleich mehrere Probleme.
Olaf Scholz und Keir Starmer können sich gut leiden. Bei offiziellen Anlässen schütteln sich die beiden Sozialdemokraten überschwänglich die Hände, beschwören gemeinsame Werte und Ziele. Für den deutschen Kanzler war der Regierungsantritt seines britischen Amtskollegen Anfang Juli eine erfreuliche Nachricht. Mit einem anderen Politiker an einem Strang ziehen, das kommt für den Sozialdemokraten in Zeiten des Dauerstreits in seiner Ampel-Koalition viel zu selten vor.
Umso frustrierter dürfte Scholz über Starmers Pläne bei einem Zukunftsthema sein: der Energieversorgung. Denn hier liegen die beiden Regierungschefs über Kreuz. Während die Ampel-Koalition, allen voran die SPD, strikt am deutschen Atomausstieg festhält und im vergangenen Jahr die letzten Meiler vom Netz nahm, marschiert die neue Labour-Regierung in die entgegengesetzte Richtung.
In ihrem Parteiprogramm hat sie angekündigt, den Kernenergiesektor durch den Erhalt bestehender und den Bau neuer Reaktoren „langfristig zu sichern“. Großbritannien bezieht derzeit rund 14 Prozent seiner Energie aus neun aktiven Kernkraftwerken. Die Labour-Führung sieht die Kernenergie als Wegbereiter für das selbst gesteckte Ziel der Klimaneutralität bis 2050.
Von solchen Plänen will die SPD nichts wissen. Das Netto-Null-Ziel, das Deutschland bis 2045 erreichen will, soll durch die Förderung erneuerbarer Energien gelingen, Atomkraft hat in dieser Zukunftsvision keinen Platz. Obwohl SPD und Labour derselben Parteifamilie entstammen, hat sich historisch ein klarer Antagonismus in der Energiepolitik herausgebildet, der ihre unterschiedlichen Positionen bis heute prägt.
In Deutschland überwogen in der Debatte um Atomenergie lange Zeit die kritischen Positionen. Tonangebend war vor allem die Anti-Atomkraft-Bewegung ab den 70er-Jahren. Im Zuge des von CDU und SPD vorangetriebenen Ausbaus der Kernenergie machten ihre Anhänger lautstark und medienwirksam auf den Straßen auf die Sicherheits- und Umweltrisiken sowie das ungelöste Problem der Endlagerung aufmerksam.
Die aus der Bewegung hervorgegangene Partei Die Grünen, heute Teil der Regierung, trug ihre Forderungen später in die Parlamente und erhöhte den politischen Druck. Nach der Tschernobyl-Katastrophe im Jahr 1986 schwenkte die SPD aufgrund von Sicherheitsbedenken um, der Reaktorunfall in Fukushima 2011 veranlasste auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Kurswechsel. In einer historischen Rede verkündete sie den Atomausstieg bis 2022, der von allen Parteien mitgetragen wurde.
Doch spätestens mit dem Ukraine-Krieg und dem Ausfall russischer Gaslieferungen bröckelte die Einigkeit: CDU und FDP stimmten für eine Laufzeitverlängerung, die Grünen nach langem Zögern für einen befristeten Weiterbetrieb. Scholz entschied schließlich mit seiner Richtlinienkompetenz für ein Weiterlaufen bis April 2023, danach sollte endgültig Schluss sein.
In der Bevölkerung stößt der Beschluss auf Unmut: Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Vergleichsportals Verivox vom April halten 52 Prozent der Deutschen den Ausstieg für falsch, rund 28 Prozent unterstützen die Entscheidung.
Atomkraft als Chance für Energiewende
Die Atomkraftgegner in Großbritannien waren traditionell weit weniger gut vernetzt und einflussreich als ihre deutschen Pendants. Das hat auch damit zu tun, dass die Kernenergie schon lange Teil der britischen DNA ist. Bereits 1956, zu Zeiten der konservativen Regierung unter Anthony Eden, wurde auf der Insel das erste kommerzielle Kernkraftwerk in einem westlichen Land in Betrieb genommen. Weitere Anlagen folgten bis in die späten 1980er-Jahre unter konservativen und Labour-Regierungen.
Nach den dramatischen Reaktorunfällen geriet die Kernenergie auch in Großbritannien in die Kritik, allerdings nie so stark wie in Deutschland. Neben der latenten Skepsis und den wirtschaftlichen Unsicherheiten in der Branche wurden über drei Jahrzehnte keine neuen Reaktoren gebaut, ein formeller Ausstieg stand jedoch nicht zur Debatte. Atomkraft wurde stets vor allem als Chance begriffen, fossile Energieträger hinter sich zu lassen und eine autonome Energieerzeugung zu etablieren.
Der Ukraine-Konflikt hat diese Überzeugung noch gefestigt. Laut einer YouGov-Umfrage ist die Zustimmung zur Kernenergie seit 2021 gestiegen und lag zuletzt bei 48 Prozent. Dem Bau von neuen Atomkraftwerken stehen die Briten allerdings gespalten gegenüber: 42 Prozent haben sich dafür ausgesprochen, 41 Prozent dagegen. Die bis Juli amtierende konservative Regierung unter Rishi Sunak kündigte vor zwei Jahren an, die Stromerzeugung aus Kernenergie bis 2050 auf 25 Prozent zu erhöhen.
Die neue Labour-Regierung hat sich zwar noch nicht konkret zum künftigen Anteil der Kernenergie geäußert, das Parteiprogramm lässt jedoch eine steigende Tendenz vermuten. Wind- und Sonnenenergie sollen den Löwenanteil der Investitionen erhalten, aber auch die Kernenergie soll gefördert werden. Die Regierung plant, bestehende Reaktoren am Netz zu halten und durch eine Kombination von staatlichen und privaten Investitionen neue Bauprojekte zu starten, darunter kleinere modulare Kernkraftwerke (SMR).
Die Partei verweist konkret auf die Kernkraftwerke Hinkley Point C und Sizewell C, deren Bau während der Regierungszeit der Konservativen in Angriff genommen wurden und nun unter ihrer Leitung vollendet werden sollen. Im Gegensatz zur Bundesregierung bewertet Labour Kernenergie als klimafreundlich und bezeichnet sie in ihrem Parteiprogramm als „saubere Energie“. Eine Einschätzung, die auch von der EU-Kommission geteilt wird. Diese hatte Investitionen in neue Atomkraftwerke vor zwei Jahren als klimafreundlich eingestuft.
Es wird ein Kraftakt, den Bau neuer Atomreaktoren voranzutreiben. Zwar liefern Atommeiler langfristig preislich vergleichbare Energie, aber ihr Bau ist langwierig und teuer. Ein Beispiel ist der Reaktor Hinkley Point C, dessen Fertigstellung ursprünglich für 2025 geplant war, sich nach neuen Schätzungen aber um bis zu sechs Jahre verzögern wird.
Auch die defizitäre Haushaltslage lässt Zweifel aufkommen, ob sich Labour derzeit Investitionen in die Kernenergie überhaupt leisten kann. Schatzkanzlerin Rachel Reeves wird nicht müde zu betonen, dass die konservative Vorgängerregierung ein „schwarzes Loch“ von 22 Milliarden Pfund im Haushalt hinterlassen hat. Die Kosten für den Reaktor Hinkley Point C werden inzwischen auf bis zu 34 Milliarden Pfund geschätzt, fast doppelt so viel, wie ursprünglich veranschlagt.
Letztes Kohlekraftwerk abgeschaltet
Fraglich ist, ob die britische Gesellschaft weitere Projekte dieser Art stillschweigend akzeptieren wird. Als Labour im August 5,5 Milliarden Pfund für den Atomenergiesektor freigab, kritisierte die Organisation Stop Sizewell C gegenüber der BBC, dass die Regierung das „schwarze Loch“ im Haushalt noch tiefer grabe. Wie hoch der finanzielle Spielraum für den Sektor sein wird, darüber wird Reeves Ende Oktober Aufschluss geben, wenn sie das Budget für das kommende Finanzjahr vorstellt.
Die Partei sieht eine potenzielle Lösung in modularen Kraftwerken, da diese schneller und günstiger gebaut werden können. Ihr Nachteil ist, dass sie weniger Energie als konventionelle Atommeiler generieren und noch nicht vollständig erprobt sind. Auch die Probleme der Umweltschäden, einschließlich radioaktiver Kontamination sowie die Endlagerung sind nach wie vor nicht vollständig gelöst.
Was sich die britische Regierung zumindest schon jetzt auf die Fahnen schreiben kann: Ende September ist in Großbritannien das letzte Kohlekraftwerk abgeschaltet worden. Damit ist es das erste G-7-Land, das ohne den fossilen Brennstoff auskommt. Deutschland, wo die Bundesregierung keine Gelegenheit auslässt, die erneuerbaren Energien zu preisen, bezog im vergangenen Jahr 26 Prozent seines Stroms aus Kohle.