Oberst Markus Reisner im Interview zu Nordkorea und Ukraine, Moldau und dem aktuellen Frontverlauf | ABC-Z
Die russischen Truppen in der Ukraine bekommen womöglich Hilfe von Nordkorea. Im Interview mit ntv.de sagt Oberst Reisner, warum er nicht mit einem Einsatz im Donbass rechnet – falls es überhaupt dazu kommt. Außerdem erklärt er, warum die Frage auch völkerrechtlich hoch brisant ist.
ntv.de: Herr Reisner, bei einem Referendum in Moldau soll sich Russland massiv eingemischt haben. Präsidentin Maia Sandu spricht von beispielsloser Manipulation. Hat das auch etwas mit der Ukraine zu tun?
Markus Reisner: Russland versucht ganz klar, das Land zu destabilisieren. So funktioniert hybrider Krieg. Die Russen wollen damit auch die Aufmerksamkeit von der Ukraine ablenken und zusätzliche Reibungspunkte und Auseinandersetzungen schaffen. So soll der Westen an neue Konflikte gebunden und wichtige Ressourcen sollen eventuell dorthin umgeleitet werden. Was an Aufmerksamkeit und Ressourcen nach Moldau geht, fehlt dann in der Ukraine.
Diese Woche gab es Berichte, Soldaten aus Nordkorea kämpften an der Seite Russlands in der Ukraine. Zunächst soll es um 1500 Soldaten gehen, insgesamt womöglich 12.000. Welchen Unterschied würde das militärisch machen?
Noch sind dabei viele Fragen offen. Interessant ist, dass US-Verteidigungsminister Lloyd Austin gesagt hat, ihm lägen noch keine konkreten Berichte vor über den Einsatz nordkoreanischer Soldaten in der Ukraine vor. Auch in russischen sozialen Netzwerken wird darüber diskutiert. In den besagten Netzwerken geht man davon aus, die Nordkoreaner würden nur im Raum Kursk eingesetzt, also auf russischem Boden.
Warum ist das wichtig?
Wenn Nordkorea tatsächlich Soldaten entsendet, die in der Ukraine Seite an Seite mit den Russen kämpfen, wäre das aus meiner Sicht ganz klar eine nordkoreanische Kriegsbeteiligung. Kämen diese in der Ukraine zum Einsatz, könnte man dem Westen ein Argument geben, das Gleiche zu tun. Also eigene Truppen in die Ukraine zu entsenden.
Wäre ein Einsatz der Nordkoreaner auf russischem Boden keine Kriegsbeteiligung?
Das kann man völkerrechtlich für jeden Laien nicht so eindeutig argumentieren. Wenn ihre Truppen Schulter an Schulter im Kriegseinsatz mit anderen Truppen in einem anderen Land sind, kann man von einer Kriegsbeteiligung sprechen. Bei einem Einsatz auf dem eigenen Territorium wäre die Lage unklarer, und völkerrechtlich unschärfer. Russland könnte argumentieren, es würde um Hilfe bitten, weil ein anderer Staat auf sein Gebiet vorgedrungen ist. Aus meiner Sicht ist diese Argumentation vorgeschoben. Russland bleibt der Aggressor. Es kann damit von vornherein kein Recht auf Selbstverteidigung gegen die Ukraine und deren Unterstützer geltend machen.
Man kann sich also lange darüber streiten.
Genau. Interessant finde ich daran, dass in Russland in den sozialen Netzwerken darüber diskutiert wird. Man ist sich also der Brisanz der Situation bewusst. Ich halte es daher für durchaus möglich, dass nordkoreanische Truppen vorrangig im Raum Kursk eingesetzt würden. Bis zu 12.000 Mann würden dort schon einen Unterschied machen.
Selenskyj sagte, das sei der erste Schritt zu einem Weltkrieg. Stimmen Sie ihm zu?
Wenn immer mehr Staaten offen an der Seite eines anderen Staates in einen Konflikt eintreten, haben wir mehr Kriegsparteien, mehr Teilnehmer eines internationalen bewaffneten Konflikts. Es ist dann die Frage, ab wann man von einem Weltkrieg sprechen könnte. Wo fängt das an, wo hört das auf? Die letzten beiden Weltkriege fingen lokal begrenzt an. Wir tun uns im Moment noch schwer, die ganze mögliche Tragweite zu erfassen. Die Historiker nach uns werden es leichter haben. Der Gedanke, wir könnten am Vorabend eines noch größeren Konflikts stehen, kann einem schon den Atem verschlagen. Abwegig ist das aber nicht.
Wie blicken Sie aktuell auf den Ukraine-Krieg? Wo stehen wir?
Ich denke zuerst an die Reise von Präsident Selenksyj durch Europa. Es gibt weiter Willensbekundungen, Waffen und Ausrüstung zu liefern. Aber bei den entscheidenden Fragen wie der Lieferung weitreichender Waffensysteme steht man offensichtlich auf der Bremse. Aus den USA ist zu hören, die Ukraine solle sich realistische Ziele setzen. Ganz offen sagt das niemand. Aber Selenskyj muss feststellen, dass auch Europa einen realistischen Plan erwartet. Und das ist nicht der Siegesplan, den er vorgestellt hat.
“Realistisch” bedeutet, auch auf eigenes Gebiet zu verzichten?
Schlussendlich ja. Interessant sind an dieser Stelle neue Zahlen zu den Verlusten auf beiden Seiten. Darüber berichtet das “Wall Street Journal” unter Berufung auf US-Geheimdienste. Demnach haben die Russen bis zu 200.000 Tote und 400.000 Verwundete. Diese hohen Zahlen sind nicht überraschend. Die Zahlen zur Ukraine dagegen schon. Demnach haben sie bis zu 80.000 Tote und 400.000 Verwundete zu beklagen. Das ist wesentlich mehr als bislang veröffentlicht wurde. So soll offensichtlich deutlich gemacht werden, wie schwierig die Lage für die Ukraine ist. Davon gehe auch ich aus.
Die Russen haben zuletzt verstärkt Kraftwerke und andere Infrastruktur angegriffen. Wie ist dort die Lage?
Der Druck auf die Infrastruktur ist enorm. Bis zu 80 Prozent sollen beschädigt oder zerstört sein. Die Russen schicken immer mehr Drohnen in die Ukraine. Viele werden abgeschossen, aber die Schäden an der kritischen Infrastruktur sind massiv. Wir sehen in fast jeder Nacht Angriffe von Shahed-Drohnen. Im Schnitt sind es derzeit 35 bis 40 pro Tag. Im September waren es insgesamt 1124, die abgeschossen wurde. Im Oktober sind es derzeit knapp 640. Hinzu kommen alle 10 bis 14 Tage Angriffe mit ballistischen Raketen und Marschflugkörpern. Es stellt sich schon die Frage, wie die Ukraine durch den Winter kommen soll.
Die Ukraine hat außerdem Probleme, noch genug Soldaten zu finden. Kann sie den Angriffen in den kommenden Monaten standhalten?
Derzeit kulminiert die russische Sommeroffensive. Entlang der gesamten Frontlinie greifen die russischen Truppen intensiv an. Im Schnitt fallen jede Woche ein bis zwei Dörfer an die Russen. Das mag sich nicht nach viel anhören. Aber am Ende wird derjenige erfolgreich sein, der die größeren Ressourcen hat. Im Donbass, südlich von Kupjansk, haben die Russen nach dem Durchbruch bei Pishchane den Fluss Oskil erreicht. In diesem Raum sind die ukrainischen Kräfte somit geteilt. Weiter südlich bei Pokrowsk bilden die Russen zwei neue Kessel. Dort marschieren sie langsam vor, ebenso weiter südlich bei Saporischschja. Bei Charkiw ist es hingegen relativ ruhig.
Wie ist die aktuelle Lage in den von den ukrainisch besetzten Gebieten in Russland bei Kursk?
Das Momentum ist auf russischer Seite. Es gab einen Vorstoß der Russen entlang der Straße Richtung Sudscha. Den konnten die Ukrainer bislang nicht bereinigen. Das bedeutet, dass die Gebiete in der Umgebung nicht zu halten sind.
Gerade gab es eine Meldung, die Ukraine habe 400 Shahed-Drohnen zerstört. Ist das mehr als eine Momentaufnahme?
Solche spektakulären Ereignisse sind beeindruckend. Mehr als eine Momentaufnahme wird das aber erst, wenn es einen saturierenden Effekt gibt. Es müsste solche Angriffe jede Woche zwei-, dreimal geben. Erst dann wäre ein Effekt messbar. Dann könnten die Russen immer weniger Shahed-Drohnen einsetzen. Tatsächlich werden es aber immer mehr. Man sieht dies auch bei den russischen Gleitbomben. Hier spricht der ukrainische Präsident Selenksyj bereits von 900 abgeworfenen Stück pro Woche.
Mit Markus Reisner sprach Volker Petersen