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Städel zeigt Meisterwerke des italienischen Disegno | ABC-Z

Die Graphische Sammlung des Städel entzückt erneut mit Federkunst: Waren es zuletzt die spitzen Federn Daumiers und Kollwitz, sind es nun – passend zum diesjährigen Buchmessen-Gastlandes Italien und zur Feier mehrjähriger Forschungs- und Restaurierungsarbeit – barocke Edelfedern des Belpaese „von Carracci bis Bernini“, die ob ihrer schier grenzenlosen „Phantasie und Leidenschaft“, so der Übertitel der Schau, staunen lassen. Dabei ist das „von … bis“ nicht chronologisch gemeint, denn alle 90 ausgestellten Zeichnungen (fast komplett noch aus Johann Friedrich Städels Gründungssammlung) gehören zeitlich wie stilistisch dem Barock an, sondern räumlich: Das Städel zeigt alle großen Schulen und Kunstregionen von Bologna (hier vor allem die Carraccis) über Genua und Neapel (Salvator Rosa, aber auch der dort tätige Spanier Ribera) bis Rom (Bernini und Cortona). Es ist wie mit dem Traumreiseziel Italien: Im Urlaub versucht man zwar, alle Kulturzentren von Ligurien über Friaul und der ewigen Stadt bis hinunter in den Süden einigermaßen paritätisch abzudecken, aber die meisten von uns haben doch eine Lieblingsregion und kehren immer wieder zu dieser zurück.

Vom gelösten Griff an die Brust im Vordergrund über die Hand an der Wange links oben bis hin zum unruhigen Schlaf der ermatteten Liebesgöttin rechts hinten: Annibale Carraccis Suchbewegungen auf dem Blatt „Ruhende Venus“, um 1602Städel Museum

Alle italienischen Regionen haben unterscheidbare Zeichnungstraditionen

So fallen auch die Beispiele der Zeichnungs-Schulen höchst unterschiedlich aus: Die Neapolitaner sind durch ihre aragonesische Herrschaft stark spanisch beeinflusst, Castiglione in Genua vielleicht als Absetzbewegung zum ewig vor der Haustür schwappenden Meer ganz aufs Ländlich-Arkadische mit Schafen und Kühen konzentriert, die Römer wiederum antikischer und mit geschärftem architektonischen Blick für die zahllosen Großbaustellen ihrer Stadt wie Il Gesu und San Andrea della Valle.

Es ist nicht bekannt, wen Bernini hier konterfeit hat, aber die Ausstrahlung der nur zart mit Rötel gehöhten Kreidezeichnung ist enorm: „Männliches Porträt im Dreiviertelprofil nach rechts“, ca. 1635Städel Museum

Für die Brüder Agostino und Annibale Carracci und ihren Cousin Lodovico, für Guercino, Jacopo da Empoli oder Gian Lorenzo Bernini war das Zeichnen jedoch nie nur ein notwendiger, lustlos vollzogener Abschnitt im Arbeitsprozess, vielmehr zentraler Bestandteil ihres Künstlertums – die Zeichnung, der Disegno, ist autonom, birgt bereits die gesamte Idee des Späteren und ist wesentlich freier als etwa ein Ölgemälde, bei dem jede neue Farbschicht erst langwierig durchtrocknen muss.

Wie in Marmor gemeißelt: Giovan Gioseffo dal Soles „Madonna mit dem Kind“, um 1700 entstanden, wirkt äußerst plastischStädel Museum

In der Mitte der Eingangswand stößt man sogleich auf einen solchen suchenden Disegno, Annibale Carraccis „Ruhende Venus“ von um 1602, die eigentlich „Drei ruhende Veneren“ heißen müsste. Denn neben ei­ner großen schlummernden Liebesgöttin mit einem Lächeln auf den Lippen im Vordergrund wohl nach antikem Vorbild hat er noch zwei weitere auf das Blatt gesetzt, jede von eigener Hand signiert, doch mit unterschiedlicher Gemütsstimmung: die eine Venus links oben legt ihre Hand so zart wie posierend an die Wange, die andere rechts hinten stützt mit verkniffenem Mund in offenbar schwerem Schlaf ihren Kopf melancholisch in den Arm, als sei ihr die Bürde, Liebesgöttin zu sein, zu viel. Selten ist der Findungsprozess hin zum fertigen Gemälde – das in der Werkstatt nach dem Vorbild der vorne liegenden Venus von einem Carracci-Schüler ausgeführt wurde – so anschaulich nachzuvollziehen.

Dreimal dieselbe Person, doch in völlig unterschiedlichen psychischen Situationen: Agostino Carraccis „Studien zu einem Heiligen Hieronymus“, 1600/1602Städel Museum

Auch Guercinos Zeichnung „Christus zu Emmaus“ in Kohle war Vorlage, nur hier für eine Druckgraphik, und fokussiert konträr zur Bildtradition weniger auf den Messias, der nicht im Zentrum sitzt und das Brot bricht, sondern auf die beiden diskutierenden Jünger in Pilger-Outfit mit Jakobsmuschel, der Multifunktionskleidung des siebzehnten Jahrhunderts.

Trotz all der Berninis, Guercinos und Elisabetta Siranis erschöpft sich die Schau aber nicht im Namenshudeln, sondern regt massiv Wiederentdeckungen an. Den Maler mit dem bürgerlichen Namen Chimenti kennt zwar kaum jemand, als Jacopo da Empoli ist er aber schon etwas bekannter. Ziemlich genau in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts geboren lebte er knapp neunzig Jahre bis 1640 und wurde mit dem Alter immer kritischer. Obwohl er auf seiner Federzeichnung „Künstler am Zeichentisch“ in brauner Tinte über Kohle dem Betrachter den Rücken zuwendet, sodass sein Alter nicht zu erkennen ist, kann das Blatt stilistisch in die Dekade zwischen 1620 und 1630 datiert werden. Da Empoli wäre also zum Zeitpunkt dieses mutmaßlichen Selbstporträts siebzig oder gar achtzig Jahre alt gewesen, und wenn man ihm auch nicht direkt in das Gesicht sehen kann, so glotzt einen doch sein Punkt-Punkt-Komma-Strich-Alter-Ego etwas naiv, aber doch deutlich jünger von der Staffelei vor ihm an. Werden die Brüder Carracci von der Kunstgeschichte heute zurecht als Erfinder der Karikatur angesehen, steht ihnen der knurrige Da Empoli in nichts nach – die Dorian-Gray-hafte Verbindung zwischen Realkünstler und Selbstbild wird durch die Spitze seines feschen Hutes gewährleistet, die subtil das wenig schmeichelhafte Abbild anzutippen scheint. Der Künstler als Rückenfigur hockt zudem hoch konzentriert auf einer kibbelnden Kiste und scheint raschzu arbeiten. Der schon über Siebzigjährige verewigt so die bis ins hohe Alter nie nachlassende Fiebrigkeit des Zeichenprozesses.

Während der Heiland rechts fast unbemerkt das Brot bricht, streiten die Jünger: Guercinos „Christus zu Emmaus“, um 1619Städel Museum

Noch weniger als Chimenti sagt heute der Name Gian Gioseffo dal Sole etwas, was schade ist – seine um 1700 entstandene „Madonna mit dem Kind“ ist eine Meisterwerk der Modellierung von Licht und Schatten in Kohle, so sehr, dass ein beinahe weichzeichnerischer, farbiger Eindruck entsteht. Christofano Alloris „Studie eines Knabenkopfes mit Schirmmütze“ von um 1600 in zwei verschiedenen Röteltönen bietet den Close-up ins Gesicht eines Knaben, das moderner nicht sein könnte: Die Iris funkelt in Rot, der Werkstattjunge wurde zum Role Model für viele Bild-Gelegenheiten.

Wirkt auf den ersten Blick mit den verschwimmenden Konturen wie ein schlechter Druck, ist aber ein raffiniertes Experiment mit in Öl getauchter Rötelkreide: Giovanni Benedetto Castigliones „Frau mit Kind auf einem Esel reitend, ein junger Mann zu Fuss nebenher gehend“, um 1635Städel Museum

Wie geschickt Künstler des Barocks biblische Stoffe für alltägliche Genredarstellungen anverwandelten und diese dadurch „adelten“, zeigt die Federzeichnung Giovanni Benedetto Castigliones (genannt „Il Grechetto“, „der kleine Grieche“, da er sich in Rom als Grieche ausgab) „Frau mit Kind auf einem Esel reitend, ein junger Mann zu Fuß nebenher gehend“ von um 1635. Die Komposition erinnert jeden Betrachter der Zeit an das Bildformular der „Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten“, wie eine junge Frau dort ihr Kind haltend wie Maria mit dem Christusknaben auf dem Esel sitzt. Ist aber schon das Gewand der Frau mit Kastenausschnitt zu modern für biblische Zeiten, zerstört der zeitgenössisch barock gekleidete und junge Pseudo-Joseph mit Barett daneben den Eindruck einer Flucht aus dem Heiligen Land vollends, ebenso der unübersehbare Hund im Vordergrund, der parallel zum Esel trottet, was bei einer echten „Flucht nach Ägypten“ nur selten vorkommt. Immer wieder waren Disegni auch Experimentierfeld: Castiglione etwa taucht die Rötelkreide in Öl, sodass die Konturen seiner Zeichnung malerisch verschwimmen.

Das Fieber des schnellen Fixierens von Flüchtigem ließ Jacopo da Empoli auch im hohen Alter nicht los: „Künstler am Zeichentisch“, um 1620–1630Städel Museum

Ähnlich wie bei den Speisen in einer guten Osteria stellt auch diese Schau vor eine schwere Wahl – beruhigend, dass es stets die beste Qualität ist, die einem das Städel vorsetzt.

Fantasie und Leidenschaft: Zeichnen von Carracci bis Bernini. Städel Frankfurt; bis zum 12. Januar 2025. Der Katalog kostet 39,90 Euro.

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