Queere Szene vor den Wahlen in Tunesien: Heimlich aus der Reihe tanzen | ABC-Z
Im autokratischen Tunesien geht die queere Szene ihre Wege im Verborgenen. Menschen wie Milïe, 21, finden bei Ballroom- und Voguing ihre Heimat.
Ein schwarzer Tanga blitzt über einer Jogginghose hervor, unter einem glitzernden Crop Top glänzt ein Bauchnabelpiercing. Jemand schlüpft in rosafarbene Overknee Heels, jemand anderes trägt eine blonde Perücke und ein Netzoberteil. Hohe Schuhe, viel Haut, wenig Kleidung.
Es riecht nach Anstrengung und Ausdauer, aber auch blumig, nach Deo und Parfüm. Die Luft ist stickig. Ein Fenster zum Lüften gibt es nicht. Nur eine Tür, aber die bleibt geschlossen. Der Raum sieht aus wie ein Ballettstudio: glatt beschichteter Parkettboden, große Spiegelfront.
Kniebeugen, Hampelmänner, Sit-ups. Etwa 15 Menschen, alle Anfang 20, schwirren durch den Raum, machen Gymnastikübungen. Der Bass dröhnt, ein Techno-Remix läuft. „My milkshake brings all the boys to the yard“ singt jemand mit, indem er nur die Lippen bewegt. Jeden Freitag findet hier in Tunis in einem Raum, dessen Adresse nur die queere Community kennt, Voguing-Unterricht statt – eine Mischung aus Tanz- und Catwalk-Training.
„Let’s go“, ruft Milïe (21) und klatscht in die Hände. Der Rest der Gruppe stellt sich brav im Kreis auf. Es wirkt fast wie eine Schulklasse, die gerade von der Lehrerin ermahnt wird. Milïe steht in der Mitte. Schwungvoll lässt sie ihren Körper nach unten fallen und landet in der Hocke. „1, 2, 3, 4“, zählt sie, kickt die Füße im Takt der Musik nach oben und bewegt sich in der Hocke bleibend vorwärts. Gleichzeitig zeichnet sie mit ihren Händen kleine Quadrate in die Luft.
Ihren Ursprung nahm die Ballroom-Szene in den 1960er- und 1980er-Jahren in Harlem, New York. Als Reaktion auf Rassismus und Ausgrenzung gründeten queere Schwarze und lateinamerikanische Communitys sogenannte Ballrooms. Anfangs als Drag-Contests in Form von Schönheitswettbewerben, später dann als Voguing-Battles. Darum dreht sich auch die Serie „Pose“. Sie erzählt von einer Transfrau, die in der New Yorker Ballroom-Szene ihr eigenes „House“ gründet. In der Szene gibt es verschiedene „Houses“ mit jeweils einer „Mother“ als Familienoberhaupt. Diese leitet ihre „Children“ an und bereitet sie auf Performances vor. In Voguing-Battles treten häufig verschiedene Häuser gegeneinander an. Die Bewegungsabläufe im Voguing leiten sich von Modelposen auf Catwalks und in Magazinen ab. Der Tanzstil heißt nach der Vogue. Voguing will Platz schaffen für die eigene Persönlichkeit und sich gegen gesellschaftliche Normen stemmen. (hms)
Der Tanzstil, den Milïe unterrichtet, heißt Vogue Femme. Der Duckwalk, den sie vortanzt, gehört zu den wichtigsten Bewegungsabläufen, genau wie die Handperformance. Wild zu gestikulieren gilt als besonders weibliche Bewegung und wird beim Voguing absichtlich auf die Spitze getrieben.
Milïe hat in der Kategorie Handperformance schon mehrere Wettbewerbe gewonnen und im tunesischen Fernsehen neben bekannten Künstler:innen getanzt. Jede Woche unterrichtet sie in diesem Raum. Doch es geht längst nicht nur ums Tanzen.
Sowohl das Training als auch der Raum, in dem es stattfindet, gelten als Safe Space für die queere Community. Die sogenannten Ballrooms (auf deutsch: Ballsäle) sind ein Ort, an dem alle anziehen dürfen, was sie wollen. An dem sie tanzen, sich austauschen und sicher fühlen.
Während Milïe im Duckwalk über den Boden gleitet, klatscht und pfeift der Rest der Gruppe. „Go Milïe, go Milïe“, rufen sie. Zwei Smartphones sind auf sie gerichtet. Nachdem sie die Tanzschritte vorgemacht hat, kommt der Reihe nach jemand anderes in die Mitte des Kreises. Dann verteilt sich die Gruppe in die Raumecken – jeweils zwei Performer:innen treten zum Battle auf dem Catwalk an.
Wie Models auf dem Laufsteg stolzieren sie von einem zum anderen Ende. Blick nach links, Blick nach rechts. Pose. Dann ein dramatischer Fall in Richtung Boden. Kurz vor Aufprall: Pose. Der Rest der Gruppe singt, schreit, jubelt.
Ballroom bedeutet Community. Ballroom bedeutet Familie. Ballroom bedeutet Freiheit.
Für viele Performer:innen in Tunesien wurde die Ballroom-Szene zum Ersatz-Zuhause. Auch Milïe gehört einem Haus an. „Ich habe zwei Familien: Meine biologische Familie und meine Ballroom-Familie“, sagt sie. Mit unzähligen Videos von Voguing-Performances auf YouTube und in der Netflix-Serie „Pose“ fing alles an. Allein tanzte Milïe in ihrem Kinderzimmer, übte jede Pose bis zur Perfektion.
„Sobald ich den Ballroom betrete, bin ich ein anderer Mensch“, sagt Milïe nach dem Training. Sie klatscht in die Hände, Schweißperlen rollen über ihre geröteten Wangen. Nach zwei Stunden ist der Unterricht vorbei. Die Gruppe strömt in Richtung Tür, Milïe verlässt als letzte den Raum. Ihre High Heels bleiben in der Umkleidekabine. Sie wirft sich ihren Rucksack über die Schulter. Bevor sie nach draußen auf die Straße geht, sagt sie: „Jedes Mal habe ich Angst davor, nicht sicher nach Hause zu kommen.“ Dann gräbt sie die Hände tiefer in die Taschen ihrer weiten Jogginghose.
„Milïe lebt in mir drin, nur im Ballroom kann ich sie herauslassen. Jetzt bin ich wieder Milad“, sagt Milïe und geht.
Wenn Milad* allein durch die Straßen von Tunis läuft, zieht er sich die Kapuze seines Hoodies fast bis zur Nasenspitze. Seine Schritte sind schnell, seine Augen fixieren den Boden. Heute wird Milad sicher zu Hause ankommen. Doch nur eine Woche später wird seine Freundesgruppe auf dem Weg zum Voguing-Training angegriffen werden. Eine Freundin von ihm wird dabei verletzt. Sie wird mit blutigen Ellenbogen beim Training sitzen.
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Nach der Revolution 2011 und dem Sturz des Autokraten Ben Ali war Tunesien auf dem besten Weg in die Demokratie. Unter Präsident Béji Caïd Essebsi trat 2014 eine neue Verfassung in Kraft. Tunesien blieb stabil, vor allem Frauen wurden immer mehr Rechte eingeräumt. Auch sprach sich die von Essebsi gegründete Kommission für individuelle Freiheit und Gleichheit schon im Juni 2018 dafür aus, Homosexualität zu entkriminalisieren. Sechs Jahre später ist Artikel 230 des Strafgesetzbuches, der Homosexualität mit bis zu drei Jahren Haft bestraft, in Tunesien noch immer in Kraft.
Nach Essebsis Tod im Sommer 2019 wurde wenige Monate später Kaïs Saïed zum neuen Präsidenten gewählt. Saïed war parteilos, schien losgelöst von korrupten Strukturen und galt deshalb als vertrauenswürdig. Insbesondere von jungen Wählerinnen und Wählern wurde er zunächst als weiterer Hoffnungsträger gefeiert. Dann kam alles anders.
Am 25. Juli 2021 setzte Saïed den auch beim Volk in Ungnade gefallenen Regierungschef ab, suspendierte das Parlament und regierte zunächst per Erlass. Wenige Monate später löste er den Obersten Justizrat auf und konzentrierte die Macht weiter auf sich: Nach einer Verfassungsreform Anfang 2022 kann der Präsident Richter und Regierung ernennen und entlassen. Im Dezember 2022 wurde schließlich, bei extrem geringer Wahlbeteiligung und unter Boykott der Opposition ein neues Parlament gewählt.
Uhren scheinen rückwärts zu laufen
Dreizehn Jahre nach dem Sturz des Autokraten Ben Ali scheint in Tunesien die Uhr rückwärts zu laufen. Meinungsfreiheit galt als wichtigste Errungenschaft der Revolution. Doch die damals erkämpften Rechte wurden und werden von Saïed schrittweise rückgängig gemacht.
„Auch unter Essebsi war Tunesien nicht perfekt, aber wir hatten wenigstens die Möglichkeit, von einer besseren Zukunft zu träumen. Saïed hat uns diese Möglichkeit genommen. Momentan leben wir in einem Albtraum“, sagt Samia Saidi*, eine Sprecherin der Organisation Mawjoudin, die sich seit 2014 für die Rechte queerer Menschen in Tunesien einsetzt.
Nicht nur für NGOs hat sich die Lage verschärft. Erst vor Kurzem wurde eine bekannte tunesische Anwältin zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie im Fernsehen sagte, dass Tunesien kein angenehmes Land zum Leben sei. Gegen einen bekannten Radiomoderator läuft ein Ermittlungsverfahren wegen eines Social-Media-Beitrags, in dem er die schlechten Bedingungen in der Leichenhalle eines öffentlichen Krankenhauses beklagt. Beiden wird die Verbreitung von Falschinformationen vorgeworfen.
„Die Verurteilungen sind willkürlich. Wer Kritik äußert, wird der Verschwörung gegen den Staat beschuldigt“, sagt Saidi. Neben Journalist:innen und Anwält:innen wurden auch mehrere Personen, die bei den jetzt anstehenden Präsidentschaftswahlen am Sonntag kandidieren wollten, verhaftet: Wegen Geldwäscheverdacht oder der vermeintlichen Bestechung von Wahlberechtigten. Bei der Wahl 2019 gab es noch 26 Kandidierende, 2024 sind es nur noch drei – Saïed mit eingerechnet.
Außerdem prüft ein Parlamentsausschuss zurzeit einen Gesetzesentwurf, der es dem tunesischen Außenministerium ermöglichen würde, in die Arbeit von NGOs vor Ort einzugreifen und diese sogar ohne gültiges Gerichtsurteil zu verbieten. „Seit ein paar Monaten arbeiten wir überwiegend im Homeoffice, weil wir uns nicht mehr trauen, ins Büro zu gehen. Mitarbeitende anderer NGOs wurden festgenommen, ihre Büros durchsucht“, sagt Amin Hamrouni*, ein weiterer Sprecher von Mawjoudin.
„Momentan hat es die Regierung auf NGOs, die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzen, abgesehen. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch queere Organisationen an der Reihe sind“, berichtet Saidi. Gegen mehrere NGOs, die mit Geflüchteten arbeiten, wird bereits ermittelt. Mawjoudin hat deshalb entschieden, die eigenen Beratungsstellen für queere Geflüchtete vorerst zu schließen. „Es ist zu riskant“, sagt Hamrouni. Alle anderen Angebote wie Filmabende, Theaterstücke, Workshops und Sicherheitstrainings finden weiterhin statt.
2018 führten dazu, die queeren NGOs Damj und Mawjoudin mit der feministischen Organisation Chouf und dem Institut für Soziologie der Uni Lyon in Tunesien eine Studie durch. Ziel war es, die Häufigkeit verbaler, psychologischer, physischer und sexueller Gewalt gegen queere Menschen zu erfassen. Befragt wurden 300 Personen, die zum Studienzeitpunkt sexuellen und/oder geschlechtlichen Minderheiten angehörten, zwischen 16 und 46 Jahre alt waren und in Tunesien lebten. 51,8 Prozent davon gaben an, im öffentlichen Raum mehr als einmal beleidigt worden zu sein, weil andere von ihrer Zugehörigkeit zu einer sexuellen oder geschlechtlichen Minderheit wussten, diese vermuteten oder infrage stellten. Darüber hinaus berichteten 32,3 Prozent, mindestens einmal in ihrem Leben von einem oder mehreren Verwandten geohrfeigt, geschlagen oder brutal behandelt worden zu sein. Auch im digitalen Raum waren sie Diskriminierung ausgesetzt: 27 Prozent der befragten Personen in Tunesien wurde über das Internet oder Telefon mit Schlägen, Mord, Folter oder Entführung gedroht. Rund 30 Prozent gaben an, dass sie mindestens einmal im öffentlichen Raum vergewaltigt worden sind oder Opfer eines Vergewaltigungsversuchs gewesen waren. Mehr als die Hälfte der Befragten war in der Vergangenheit mindestens einmal sexuell belästigt worden. (hms)
Ein großer Teil der Arbeit von Mawjoudin besteht aus der Bereitstellung von Rechtsberatung und psychologischer Unterstützung für queere Menschen. Dabei ist die Organisation auf finanzielle Mittel aus dem Ausland angewiesen. Wird das geplante Gesetz zur Einschränkung der Arbeit von NGOs tatsächlich durchgesetzt, würde die Finanzierung als Erstes gekappt. „Dann verlieren wir nicht nur unseren physischen Safe Space, sondern müssen unsere Arbeit wahrscheinlich ganz einstellen“, sagt Saidi.
Großteil der Arbeit im Verborgenen
Hat die Organisation Mawjoudin nach der Revolution 2011 noch Lobbyarbeit betrieben und sich öffentlich für die Rechte queerer Menschen ausgesprochen, findet ein Großteil ihrer Arbeit mittlerweile im Verborgenen statt. Bevor Präsident Saïed ins Amt kam, schien die Abschaffung von Artikel 230, der Homosexualität unter Strafe stellt, möglich. Jetzt sorgt sich die Organisation als Ganzes um ihr Fortbestehen.
Die Abschaffung von Gesetzen wie etwa Artikel 230 allein würde aber keinen großen Unterschied machen, sagt Samia Saidi. Das Problem sei die Gewaltbereitschaft gegenüber queeren Menschen, die in der tunesischen Gesellschaft verankert sei. Die Freiheit, die der Staat den Menschen nimmt. Die Kontrolle, die er über ihr Leben hat.
„Menschen werden wegen ihrer Meinung verhaftet. Ich möchte mich frei äußern können, ohne um mein Leben fürchten zu müssen. Solange ich das nicht kann, lebe ich in Angst“, sagt Saidi.
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Eine Woche später. „Freitag ist mein Lieblingstag“, sagt Milad. Er trägt Sneaker, eine schwarze Jogginghose und einen Hoodie, genauso giftgrün, wie das Kaugummi, das er gerade kaut. Jede Woche vor dem Voguing-Training trifft er sich mit Freund:innen in einem Teehaus. Zum Abhängen, zum Reden – und um „Milïe rauszulassen“, wie er es nennt. „Milad tanzt auch, aber nur Milïe voguet“, sagt er.
Seine Eltern wissen vom Tanztraining. Seine Mutter hat Milad sogar mal ins Ausland begleitet, als er dort an einem Voguing-Battle teilnahm. Während er auf der Veranstaltung tanzte und später sogar in der Kategorie Handperformance gewann, war seine Mutter shoppen. „Meine Eltern wissen, dass ich tanze. Aber sie nehmen das nicht so ernst. Sie wissen nicht, dass mir das Tanzen das Leben rettet“, sagt Milad.
Als er 15 war, habe er zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. In der Schule sei er gemobbt worden, erzählt er. Er erinnert sich an einen Vorfall. Eine Gruppe Jungs lauerte ihm nach der Schule auf. Sie bewarfen ihn mit Steinen, beschimpften ihn. „Ich weiß, wie man sich wehrt“, sagt Milad. Er habe zurückgeschlagen, sich verteidigt. Irgendwann seien Passanten dazwischengegangen. Als die Gruppe Jungs verschwunden war, sei er zitternd und mit blutender Schläfe nach Hause gerannt.
„Ich habe mich längst daran gewöhnt, gemobbt zu werden“, sagt Milad. Er kaut an seinen Nägeln. „Es ist Teil meines Lebens, es gehört einfach dazu“, erzählt er weiter und beißt einen Hautfetzen unter seinem Fingernagel ab.
Hände benutzen gilt als zu feminin
Wenn Milad das Haus verlässt und auf die Straße geht, kleidet er sich unauffällig, so wie heute. Locker sitzende Jogginghose, Hoodie, Sneaker. „Wenn ich laufe, gebe ich mir Mühe, dass es besonders männlich aussieht“, sagt er und verschränkt die Arme vor der Brust. „Wenn ich rede, versuche ich möglichst wenig meine Hände zu benutzen. Das könnte als zu feminin verstanden werden“, sagt er.
Aber hier im Teehaus – und später im Ballroom – ist das egal. Hier haben sich Milad und seine Freund:innen einen Safe Space geschaffen. Einen Ort, an dem sie nicht ständig über die Schulter gucken müssen. Einen Ort, an dem keine Gefahr lauert. Hier im Teehaus wirkt niemand angespannt. Milad und seine Freund:innen lachen, alle scheinen unbeschwert.
Doch sie wünschen sich mehr als nur diesen einen Tag in der Woche, mehr als diese zwei Stunden Training. Sie wünschen sich ein Leben, in dem sie tragen können, was sie wollen. In dem sie sind, wer sie sein möchten – nicht wer sie sein müssen.
Die Organisation Mawjoudin finanziert den Raum, in dem Milïe tanzt und unterrichtet. Für Training mehr als einmal in der Woche reicht das Geld nicht aus. Deshalb trainiert Milad auch zu Hause. Voguing ist Ausdauersport. Es braucht Beweglichkeit, Kraft und Koordination.
„Eigentlich will ich Tänzer werden. So richtig das Celebrity Life leben“, sagt Milad und grinst. Er weiß, dass das unwahrscheinlich ist, aber hält trotzdem an seinem Traum fest. „Wenn ich einmal nicht mehr finanziell von meinen Eltern abhängig bin, könnte ich mir sogar vorstellen, mich ihnen gegenüber zu outen“, sagt Milad. Dann steht er auf. Bis zum Trainingsraum sind es noch 20 Minuten zu Fuß, aber in einer Viertelstunde geht das Training schon los.
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Der Abend, an dem Milad und seine Freund*innen auf dem Weg zum Training angegriffen werden. „Schwuchtel!“ Jemand schreit, jemand wirft etwas, jemand fällt zu Boden.
Milad geht etwa zwei Straßenkreuzungen weiter hinten als der Rest der Gruppe, weil er sich mit mir unterhält.
Jungs, wahrscheinlich 14 oder 15 Jahre alt, schleudern Müll in unsere Richtung. Glasflaschen. Scherben. Sie lachen. Dann laufen sie davon.
Wir rennen nach vorne zu den anderen.
Eine Freundin von Milad schiebt die Ärmel ihrer Jeansjacke nach oben. Ihre Ellenbogen sind aufgeschürft. Sie blutet. An ihrer Jeans kleben Staub und kleine Steinchen vom Boden der Straße. Sie klopft sie ab. Die langen Haare hat sie unter einer Wollmütze versteckt. Sie sieht meinen entsetzten Blick und sagt: „Reg dich nicht auf, Love. Das ist normal. Es passiert jeden Tag.“
Wir gehen weiter. Milad und die anderen laufen jetzt schneller. Vielleicht aus Schock, vielleicht weil sie sich beeilen müssen, um noch rechtzeitig zum Training zu kommen.
Die Avenue Habib Bourguiba, eine der wichtigsten Verkehrsstraßen in Tunis, ist eine Allee. Rechts und links der Bäume fahren Autos. In der Mitte ist ein Fußweg, auf dem sich jede Menge Leute tummeln. Milad und die anderen umkurven größere Gruppen von Männern im Slalom. Schnell und effizient.
Im Tanzstudio angekommen, dröhnt der Bass. Milïe zieht sich ihre High Heels und Knieschoner an. Sie dreht Pirouetten, wie ein Vogel schwebt sie durch den Raum, beugt sich nach hinten in die Brücke und fällt zu Boden. Pose.
Ein Satz kommt in Erinnerung, den Milad vorhin im Teehaus gesagt hat, vor dem Angriff: „Milad ist Milïe, wenn er sich sicher fühlt.“
Ihre Freundin mit den blutenden Ellenbogen sitzt auf einem der Stühle an der Seite des Raumes. Sie wippt mit dem Beat, wiegt ihren Kopf hin und her. Der Raum ist voll und laut und fröhlich.
* Name zum Schutz der Person geändert