Wie die EU-Kommission Umweltsünder schont – Wissen | ABC-Z
Das klingt gut. Doch in der Praxis halten sich von der Leyen und ihre Beamten längst nicht immer daran. Das belegen die Daten über die laufenden sogenannten Vertragsverletzungsverfahren, die das Journalistenteam Investigate Europe ausgewertet hat. Demnach verschont die Kommission in mehr als 40 Fällen die verantwortlichen Regierungen vor Bestrafung, obwohl die Richter am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg urteilten, dass diese das EU-Recht brechen. Vor allem beim Verstoß gegen die EU-Umweltgesetze verzichten Präsidentin von der Leyen und ihre Beamten auf ihr schärfstes Instrument: Anstatt die Rechtsbrecher mit hohen Geldstrafen zu belangen, gewähren sie ihnen viele Jahre lang Aufschub.
„Die Kommission sollte sicherstellen, dass alle verabschiedeten EU-Gesetze in allen Mitgliedstaaten vollständig durchgesetzt werden, aber das tut sie nicht“, beklagt der Europaabgeordnete Daniel Freund (Grüne). So erfülle die Kommission „systematisch ihre Aufgabe als Hüterin der Verträge nicht“.
Wenn Regierungen Umweltgesetze brechen, lässt die Kommission sich oft Zeit
Verfahren wegen Vertragsverletzung kann die Kommission eröffnen, wenn die Regierung eines Mitgliedsstaates sich weigert, EU-Gesetze durchzusetzen. Das beginnt stets mit schriftlichen Mahnungen. Bleiben diese erfolglos, können die Beamten Klage beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg einlegen. Das geschah im Jahr 2023 immerhin 82-mal.
In den meisten Fällen geben die Richter den Klagen Recht und fordern die Regierungen auf, den Rechtsbruch zu beenden. Wenn die nationalen Ministerien diesem höchstrichterlichen Urteil nicht folgen, bleibt der EU-Zentralbehörde nur noch ein Mittel: Ihre Beamten können mittels eines weiteren Gerichtsurteils Geldstrafen von mehreren hundert Millionen Euro jährlich verhängen lassen und diese notfalls über die Kürzung von Fördergeld eintreiben.
Doch von diesem Recht macht die Kommission sehr unterschiedlich Gebrauch. Sehr schnell lief es etwa beim Verfahren gegen die frühere polnische Regierung, als diese die Unabhängigkeit der Richter des Landes aufhob. Dagegen legte die EU-Kommission im April 2021 Klage beim EuGH wegen Verletzung des EU-Vertrages ein. Daraufhin urteilten die Richter im Juli, die polnische Regierung müsse die umstrittene Justizreform aussetzen. Weil die Regierenden in Warschau dem nicht folgten, klagte die Kommission schon zwei Monate später auf Verhängung einer Geldstrafe. Im Oktober desselben Jahres verurteilte das Gericht den polnischen Fiskus zu Strafzahlungen von einer Million Euro täglich.
Ganz anders dagegen geht die EU-Behörde oft vor, wenn die Regierungen die Gesetze zum Schutz der Umwelt brechen. Etwa im Fall Nummer 2290 gegen Irland. Seit mehr als 40 Jahren werden dort die vorgeschriebenen Schutzgebiete für bedrohte Vögel nicht ausgewiesen. Nach vielen Jahren vergeblicher Verhandlungen verklagte die Kommission dann 2004 den Staat Irland und die Richter verurteilten das Land 2007 umgehend „alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen“, um den Schutz der bedrohten Vogelarten sicherzustellen.
Doch das ist bis heute nicht geschehen. Nach Angaben eines beteiligten Mitarbeiters sieht die zuständige Abteilung der Kommission bis heute große Lücken. So gibt es etwa keinen von der EU-Kommission akzeptieren Plan zum Schutz der Kornweihe, einer bedrohten Raubvogelart, von der es nur noch 100 Brutpaare gibt, 60 Prozent weniger als 20 Jahre zuvor. Und das ist nur eine von vielen bedrohten Arten. Die Umweltorganisation „BirdWatch Ireland“ berichtete, dass 63 Prozent aller Vogelarten in Irland einen Rückgang ihrer Populationen verzeichnen, davon ein Viertel in gravierendem Ausmaß.
Eine Geldstrafe müssen die Iren gleichwohl bislang nicht fürchten. Über die Gründe für diesen Langmut verweigert die EU-Behörde jedoch auf Anfrage jede Auskunft. Und das nicht nur in diesem Fall. Generell gebe man über anhängige Verfahren keine Informationen, sagte ein Sprecher. Sogar dann, wenn der Rechtsbruch schon seit einem Vierteljahrhundert andauert.
Keiner der übrigen Fälle ist so alt wie der gegen Irland. Aber viele folgen demselben Muster: Beim Schutz der Umwelt nimmt es die Kommission nicht so genau. So gab es zum Stichtag 1. Juli gemäß Auswertung einer Datenbank der EU-Kommission 44 Verfahren gegen insgesamt 15 Mitgliedsstaaten, die keine Geldstrafen zahlen müssen, obwohl der EuGH sie bereits verurteilt hat. Und 33 davon betreffen EU-Gesetze gegen die Verschmutzung von Luft, Gewässern und Böden sowie den Arten- und Tierschutz.
Ein Nationalpark trocknet aus
Mit gleich sieben Verurteilungen führt Griechenland die Rangliste der Umweltsünder an, gefolgt von Spanien und Italien mit sechs und fünf EuGH-Urteilen wegen Verstoßes gegen Umweltgesetze. Die Spanne der Vergehen reicht von Giftmülldeponien über fehlende Kläranlagen bis zum Versagen beim Naturschutz.
Spektakulär ist etwa der Fall des Doñana-Nationalparks in Andalusien, einem Feuchtgebiet im Delta des Flusses Guadalquivir, das Millionen Zugvögeln und vielen seltenen Arten Schutz bot. Wegen der Wasserentnahme für die Landwirtschaft trocknet das Gebiet zusehends aus. Schon im Juni 2021 verurteilte darum das EU-Gericht die spanische Regierung, gegen die vielen illegalen Brunnen vorzugehen.
Doch die Regierung blieb untätig. Die andalusische Regionalregierung forderte sogar, die legal bewässerte Fläche auszudehnen und den Schuldigen Amnestie zu gewähren. Erst nach Protest der Unesco will die Regierung nun das illegal bewässerte Land renaturieren und den Tätern für den Verzicht auf ihren Raubbau am Weltnaturerbe 100 000 Euro pro Hektar zahlen. Aber niemand weiß, ob das reicht – und die Kommission schaut zu.
Seit 2020 hat der Gerichtshof zudem bereits elf Mitgliedsstaaten für die anhaltende Überschreitung der gesetzlichen Luftschadstoffgrenzwerte verurteilt. Für keinen davon hat der fortgesetzte Rechtsbruch bisher Konsequenzen.
Deutschland wurde schon 2021 wegen schmutziger Luft verurteilt
Dazu zählt auch die deutsche Bundesregierung. Diese verurteilten die EU-Richter schon 2021 für die „systematische Überschreitung der Grenzwerte für Stickstoffdioxid in bestimmten Gebieten“. Aber das Problem hält bis heute an. Im Juli bestätigte das Berliner Oberverwaltungsgericht auf Klage der Deutschen Umwelthilfe (DUH), dass die Maßnahmen der Bundesregierung nicht ausreichen, um die EU-Vorschriften einzuhalten. Aber die Kommission hat trotzdem bisher nicht einmal mit Strafzahlungen gedroht und nennt auch dafür keine Gründe.
Nach Angaben der EU-Umweltagentur verursacht die hohe Stickoxidbelastung in deutschen Städten rund 28 000 vorzeitige Todesfälle im Jahr. „Da ist es doch verrückt, dass wir vor Gericht die Einhaltung der EU-Grenzwerte einklagen müssen, weil die Bundesregierung auf Druck der Dieselkonzerne untätig bleibt und die EU-Kommission sich weigert, diesen Rechtsverstoß abzustellen“, sagt DUH-Chef Jürgen Resch.
Paul Speight, zuständiger Referatsleiter bei der Kommission, bestreitet gleichwohl, dass es „allgemeine Prioritäten für Verstöße nach Politikbereichen“ gebe. Vielmehr würden die Umweltverfahren eben länger dauern, weil sie komplex seien und nicht durch einfache Gesetzesänderungen gelöst werden könnten. Dies erfordere „manchmal die Aussetzung bestimmter Fälle oder die Wiederholung eines Verfahrensschrittes, um ausreichende Beweise zu sammeln, wie in den Fällen zur Luftqualität“. Details zu den konkreten Fällen, die auch drei, zehn oder 20 Jahre nach dem Urteil der Richter nicht gelöst sind, nennt Speight aber grundsätzlich nicht.
Agiert die Kommission also willkürlich bei der Durchsetzung von EU-Recht? Keiner der Verantwortlichen mag offen dazu Stellung nehmen. Aber im Gespräch mit Investigate Europe bestätigt ein hochrangiger Mitarbeiter aus dem Stab eines Kommissars, dass die Verfahren zur Vertragsverletzung sehr stark „politisiert“ seien. In Ländern etwa, wo Parlamentswahlen anstehen, verzichte man tunlichst darauf, ein Verfahren voranzutreiben. Da gebe es immer „ein gewisses Maß an politischer Opportunität“. Entschieden werde das zumeist im Kabinett von Ursula von der Leyen, bestätigen mehrere Quellen.
So trifft ein kleiner Zirkel von Beamten folgenschwere Entscheidungen. „Wir haben ein Monster geschaffen, eine hochgradig politisierte Kommission, ohne jegliche Kontrollmöglichkeiten für die Bürger“, sagt Alberto Alemanno, einer der führenden Europarechtler und Professor an der Pariser Wirtschaftshochschule HEC. Ursache sei vor allem, dass der EuGH der Kommission einen fast „bedingungslosen Ermessensspielraum“ eingeräumt habe, ob und wann ein Mitgliedstaat wegen eines Verstoßes gegen das EU-Recht verfolgt werden soll.
„Wenn man aber einer Institution uneingeschränktes Ermessen einräumt, ohne sie für ihr Handeln zur Rechenschaft zu ziehen, wirft dies ein großes Problem hinsichtlich der demokratischen Legitimität auf“, sagt der EU-Jurist. Denn die Mitgliedstaaten erkennen, dass ihnen, selbst wenn sie sich nicht an die Regeln halten, „in den meisten Fällen nicht viel passieren wird“.
Den Weg zur Lösung des Problems kann vermutlich nur das Europäische Parlament weisen. Die Chance dazu haben die Abgeordneten. Am 11. Juli 2024 kündigte das Präsidium der Vertreter aller Fraktionen an, das Rahmenabkommen über die Zusammenarbeit zwischen EU-Kommission und Parlament grundlegend zu überarbeiten. Eines der Hauptziele soll sein, die Kommission gegenüber dem Parlament verstärkt rechenschaftspflichtig zu machen.
Investigate Europe ist eine gemeinnützige Genossenschaft von Journalisten aus elf Ländern, die von Stiftungen, privaten Spendern und Lesern finanziell unterstützt wird.