#90sSummer: Millenial-Eltern sehnen sich nach Seifenkisten und Wasserbomben | ABC-Z

Morgens aufwachen und noch nicht wissen, was der Tag bringen wird. Dann mit dem Fahrrad zum See fahren und mittags auf der Picknickdecke Wassermelonen essen. Es riecht nach frisch gemähtem Gras, und im Tiefkühlschrank wartet das Wassereis. So muss er gewesen sein, der legendäre Neunzigerjahre-Sommer. Zwischen grenzenloser Freiheit, Seifenkistenbau und Wasserbombenschlacht – und natürlich ohne Tablets oder Smartphones. Genau diese Zeit wollen viele Millennial-Eltern für ihre eigenen Kinder wieder aufleben lassen.
Wie das geht, zeigen zum Beispiel die beiden Väter PJ und Thomas auf Instagram. Sie spielen mit ihren Kindern „Vier gewinnt“, die Kleinen bauen eine Höhle aus Decken, gegen die Hitze gibt es eine Dusche mit dem Gartenschlauch. Als Eltern von heute basteln sie am idealisierten Sommer von gestern, „ein Sommer wie 1995, aber mit mehr Sonnencreme und weniger Homophobie“. In Ratgebern wird zum „analogen Abenteuer“ geraten, zum Picknick statt Pinguin-Streaming, zum Sand unter den Füßen statt Sandmännchen auf Youtube. Der „#90sSummer“ wird zum Erziehungsziel: draußen spielen, offline sein, Langeweile aushalten lernen.
Ungeplante Zeit muss erst mal geübt werden
Die Wissenschaft gibt diesen Eltern zumindest teilweise recht: Laut der American Psychological Association ist unstrukturiertes Spielen ein wichtiger Baustein der kindlichen Entwicklung. Beim Fangen im Hinterhof lernen Kinder Ausdauer, wer von Mauern springt, lernt Risiken einzuschätzen. Damit ist der Neunziger-Sommer auch eine Gegenbewegung zu durchgetakteten Ferien-Camps und ständiger Freizeitoptimierung. Nach Monaten voller Schule, Hobbys und abendlicher Youtube-Routine muss Freiheit allerdings oft neu gelernt, manchmal sogar behutsam geübt werden. Zu viel ungeplante Zeit auf einmal kann Kinder schnell überfordern. Das Gleiche gilt für die Erwachsenen.
Was für Kinder spontan und ungeplant aussieht, kann Eltern unter Stress setzen. Die Influencerinnen von „Big Little Feelings“ erklären in einem ihrer Videos, dass ein solcher Ideal-Sommer für viele Erwerbstätige schlicht unerreichbar ist. „Gib mir die Wirtschaft der Neunziger und die damaligen Hauspreise zurück“, kommentiert eine Nutzerin treffend.
Heute arbeiten oft beide Elternteile, Kinderbetreuung muss organisiert werden. Die hohe Zahl der Ferientage ist für viele Familien in Deutschland eine Herausforderung. „Die Betreuungsproblematik ist für zunehmend mehr Eltern das eigentliche Problem“, sagt Florian Eschstruth vom Bayerischen Elternverband im Gespräch mit dem RND. Und auch sonst bleibt der Trend zum analogen Feriensommer meist ein Privileg für Familien mit Zeit, Ressourcen und vielleicht sogar eigenem Garten.
Früher wurde auch viel ferngesehen
Den braucht es für die Wasserschlacht unterm Küchenfenster. Und: Auch in den Neunzigerjahren wurde deutlich mehr ferngesehen, als manche heute zugeben möchten. Im Schnitt verbrachten Jugendliche damals zwei bis drei Stunden täglich vor dem Fernseher. Krisen? Gab es ebenfalls: In den Nachrichten dominierten Meldungen vom Tschetschenien- oder Bosnienkrieg.
Millennial-Eltern versuchen, ihren Kindern eine Unbeschwertheit anzubieten, die es vielleicht zumindest in dieser Form nie gegeben hat. Der 90er-Sommer, an dem viele sich abarbeiten, ist ein Sommer der Erinnerung, kein historischer Befund. Es ist eine Erinnerung, die mit schöner Regelmäßigkeit in den warmen Monaten wieder auftaucht. So bleibt er ein Versprechen für mehr Achtsamkeit: Mal dem Plätschern des Wassers zuhören, das Handy auf stumm schalten, sich der Langeweile hingeben, bis diese in Kreativität umschlägt. Vielleicht wünschen sich viele Eltern den Neunziger-Sommer vor allem für sich selbst.