80 Jahre Kriegsende und der deutsche Fußball: Erst spät erwacht das Gewissen – Sport | ABC-Z

Im August 2014 versammeln sich Hunderte Fans des 1. FC Magdeburg in der Nähe ihres Stadions. Mit Applaus und Gesängen bejubeln sie die Einweihung eines Denkmals, das Heinz Krügel gewidmet ist. Unter Krügel hatte der 1. FC Magdeburg in der DDR dreimal die Meisterschaft und 1974 den Europapokal der Pokalsieger gewonnen. Es war der einzige internationale Titel für einen Klub der DDR.
Viele Fans machen Fotos von sich und der Statue, die sie selbst mit Spenden finanziert haben. Einige wünschen sich, dass das Stadion in Magdeburg nach Heinz Krügel umbenannt wird. Ob es da etwas geben könnte, das Krügel irgendwann vom Sockel stoßen könnte?
Anfang 2021 berichtet die Freie Presse in Chemnitz über die frühere Mitgliedschaft von Heinz Krügel in der Waffen-SS. Daraufhin beruft der 1. FC Magdeburg eine ehrenamtliche Kommission. Wegen der Pandemie gestaltet sich die Archivrecherche schwierig, doch nach knapp zwei Jahren veröffentlicht die Arbeitsgruppe im März 2023 einen neunseitigen Bericht.
Zu den Erkenntnissen gehört, dass Heinz Krügel als 19-Jähriger freiwillig in die Waffen-SS eintrat. Er war mehrfach im Kriegseinsatz und erhielt drei Auszeichnungen der Nationalsozialisten. Krügel wurde verwundet, begab sich in britische Gefangenschaft, kam 1946 frei. Später in der DDR wusste die Staatssicherheit darüber Bescheid, doch sie hielt die Informationen verschlossen. Schließlich sollte Krügel als Trainer 1959 das Nationalteam übernehmen.
Die Kommission des 1. FC Magdeburg hält sich im Abschlussbericht mit einer klaren Bewertung zurück. Sie betont, dass sie Krügel keine Kriegsverbrechen nachweisen könne. Aber wie genau sollte man mit einer Mitgliedschaft in der Waffen-SS, in einem der brutalsten Kampfverbände, heute umgehen?
An diesem Donnerstag, am 8. Mai, jährt sich die Kapitulation der Nationalsozialisten zum achtzigsten Mal. Auch im Fußball entwickelte sich erst spät ein Geschichtsbewusstsein. Seit Anfang des Jahrtausends erinnern Vereine und Verbände an verfolgte jüdische Spieler, Trainer und Funktionäre. Was bislang zu kurz kam, war der Blick auf Täter, Profiteure und Mitläufer aus dem Sport. Und so stellt sich die Frage: Dürfen die Helden von damals auch die Helden von heute sein?
Die wissenschaftliche Basis zum Thema ist bislang dünn, aber das soll sich ändern. Im Auftrag der DFB-Kulturstiftung erforscht der Historiker Pascal Trees bis Anfang 2026 die Biografien von rund 100 Funktionären, die nach dem Krieg im DFB einflussreich gewesen waren. Trees schätzt, dass mehr als die Hälfte von ihnen einst in der NSDAP gewesen ist. „Bei den Funktionären handelte es sich in der Regel um recht bürgerliche Existenzen“, sagt Pascal Trees, Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in München. Unter den Verbandsleuten waren Juristen, Beamte und Lehrer, die sich mit einer Parteimitgliedschaft womöglich Aufstiegschancen versprachen. Trees: „Aber nur wenige Funktionäre traten schon vor 1933 in die NSDAP ein.“
Nach dem Krieg saßen im wiedergegründeten DFB aber nicht nur Alt-Nazis. Mit dabei war – zumindest kurzzeitig – auch Martin Stock, ein jüdischer Überlebender des Holocaust. Und Arthur Weber, ein verfolgter Kommunist. Doch in den Spitzenämtern blieben auf Jahre hinaus ehemalige NSDAP-Mitglieder. Zum Beispiel Peco Bauwens, DFB-Präsident ab 1950, der als Bauunternehmer im Nationalsozialismus selbst Zwangsarbeiter eingesetzt hatte.
Bauwens hielt nach dem Gewinn der WM 1954 im Münchener Löwenbräukeller eine Rede auf die deutsche Mannschaft. Er schwärmte von „gesunden Deutschen“, die „treu zu ihrem Land“ stünden. Ein Redakteur des Bayerischen Rundfunks, der die Rede übertrug, fühlte sich an das Vokabular der Nazis erinnert. Der Sender blendete sich aus. Kritik an seiner Rede gab es kaum. Bauwens erhielt später das Bundesverdienstkreuz und wurde zum Ehrenpräsidenten des DFB ernannt.
Der Nachfolger von Bauwens, Hermann Gösmann, DFB-Präsident zwischen 1962 und 1975, war ebenfalls in der NSDAP gewesen, zeitweise war er dort als Blockwart aktiv. Es existieren Fotos, die Gösmann mit Parteiabzeichen zeigen. Während des Nationalsozialismus war Gösmann auch Präsident des VfL Osnabrück. Dort, sagt Historiker Pascal Trees, habe Gösmann in einer Jubiläumsschrift aus Hitlers „Mein Kampf“ zitiert, aus dem Kapitel „Volk und Rasse“.
Die DFB-Präsidenten Bauwens und Gösmann gehörten – noch vor ihrer Verbandszeit – zu den vielen Profiteuren des Nationalsozialismus. Auf der Homepage des DFB findet man dazu keine differenzierten Informationen. Doch das soll sich nach der Veröffentlichung der Studie von Pascal Trees 2026 ändern. Und auch das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund will die Dauerausstellung umgestalten und ausführlicher über den Nationalsozialismus aufklären.
Aber wie genau könnte man die Mythen dekonstruieren? Eintracht Frankfurt etwa beauftragte das Fritz-Bauer-Institut mit einer Studie über den ehemaligen Nationalspieler und langjährigen Vereinsvorsitzenden Rudolf Gramlich, der ebenfalls Mitglied der Waffen-SS gewesen war. Die Erkenntnisse und Diskussionen unter den Mitgliedern führten dazu, dass die Eintracht Gramlich 2020 posthum die Ehrenpräsidentschaft aberkannte.
In Gelsenkirchen verzichtete man darauf, eine Straße und das Nachwuchsleistungszentrum des FC Schalke 04 nach Fritz Szepan zu benennen. Szepan, einer der wichtigsten Schalker Spieler in den 1930er-Jahren, übernahm während des Nationalsozialismus ein Kaufhaus, das jüdischen Besitzern gehört hatte. „Wir erinnern auch heute noch an die sportlichen Erfolge von Fritz Szepan“, sagt Thomas Spiegel, Mitarbeiter des FC Schalke 04: „Aber wir erläutern immer auch den historischen Kontext.“
In Köln, in Frankfurt, bei Schalke werden die Fußball-Mythen kritisch hinterfragt
Biografien von „belasteten“ Sportpersönlichkeiten werden zunehmend in der Erinnerungsarbeit diskutiert. In Köln führt ein Stadtrundgang des NS-Dokumentationszentrums auch zur Peco-Bauwens-Allee. Im Museum von Eintracht Frankfurt finden Zeitzeugengespräche statt. Und Fans des FC Schalke sprechen auf ihren Exkursionen in KZ-Gedenkstätten auch über Fritz Szepan. Häufig erreichen sie durch den Fußball Jugendliche, die zuvor wenig Interesse an historischer Bildung hatten.
Und in Magdeburg? Die historische Arbeitsgruppe empfiehlt, am Denkmal für den einstigen Trainer Heinz Krügel eine Tafel mit Informationen über dessen SS-Mitgliedschaft anzubringen. Aber mehr als zwei Jahre nach Veröffentlichung ihres Berichtes ist das noch nicht geschehen. Thomas Hennigs, Mitglied des 1. FC Magdeburg und auch der Kommission, bestätigt, dass man dies nachholen wolle. Er sagt aber auch: „Einige Fans vertreten die Haltung: Das ist doch alles lange her, da müssen wir nicht so einen Zinnober drum machen. Heinz Krügel bleibt unser Trainer.“
Hat diese Haltung auch mit dem politischen Umfeld zu tun? Bei der Landtagswahl 2026 könnte die rechtsextreme AfD in Sachsen-Anhalt die mit Abstand meisten Stimmen erhalten. Mehrfach haben sich deren Abgeordnete in Magdeburg für die Abschaffung der Landeszentrale für politische Bildung ausgesprochen, unter anderem, weil dort angeblich zu viele Zeitzeugengespräche mit Holocaust-Überlebenden stattfinden würden. Hans-Thomas Tillschneider, AfD-Fraktionsvize in Sachsen-Anhalt, beschrieb diese Erinnerungsarbeit als „Dauermodus der latenten Selbstanklage“.
Hat das politische Klima für die Kommission beim 1. FC Magdeburg eine Rolle gespielt? Bestand dort die Sorge, dass die AfD die Forschungen zu Heinz Krügel als „antideutsch“ oder „woke“ bezeichnen würde? „Soweit ich weiß, hat sich die AfD nicht geäußert“, sagt der Magdeburger Sportwissenschaftler Michael Thomas, der den Abschlussbericht maßgeblich verfasst hat. „Es gab insgesamt nur sehr wenig Resonanz.“
Im vergangenen Jahr feierte der 1. FC Magdeburg den fünfzigsten Jahrestag des Europapokalsieges, des größten Erfolges im Vereinsfußball der DDR. Es fanden Filmabende, Fanfeste und Exkursionen statt. Die SS-Mitgliedschaft der „Trainerlegende“ Heinz Krügel? Wurde kaum diskutiert.