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80 Jahre DP-Lager Föhrenwald: Wartezimmer zu einem neuen Leben – Bad Tölz-Wolfratshausen | ABC-Z

Einige Mütter sitzen schwatzend vor den Haustüren inmitten von Kinderwagen, ein junges Paar geht lächelnd Arm in Arm über die Schotterstraße, ein alter Mann mit langem Bart nickt freundlich in die Kamera und geht vorbei.  Fast könnte man glauben, der Farbfilm, den ein jüdischer US-Amerikaner kurz nach Kriegsende im DP-Lager Föhrenwald gedreht hat, zeige ein Idyll. Die Realität sah ganz anders aus.

Die Jüdinnen und Juden, die den Holocaust überlebt hatten und dort als „Displaced Persons“ (DP) gestrandet waren, befanden sich in einer Art Wartezimmer zu einem neuen Leben. Sie hatten die Hölle hinter sich, eine ungewisse Zukunft vor sich. Und sie standen meist alleine da – ohne ihre Familienangehörigen, die von den Nazis ermordet worden waren. Sie kamen aus Konzentrationslagern, Arbeitslagern, irgendwelchen Verstecken. „Sie wirkten dem Leben entrückt, unberührbar, angstlos, mit einem unheimlichen Wissen ausgestattet“, sagt Rachel Salamander, die als Kind in Föhrenwald gelebt hat.

220 Tafeln mit dem Lebenslauf ehemaliger Föhrenwald-Bewohner wurden von 120 Schülerinnen und Schülern bei einem Gedenkzug durch Waldram getragen. Auch beim Festakt am Tag danach wurden einige davon gezeigt. (Foto: Hartmut Pöstges)

Um an die Gründung des Lagers vor 80 Jahren zu erinnern, stellte der Verein „Erinnerungsort Badehaus“ ein viertägiges Erinnerungsprogramm auf die Beine. Der erste Höhepunkt: In einem großen Gedenkzug wurden 220 Tafeln mit dem Lebenslauf der jüdischen Föhrenwalder vor die Häuser getragen, in denen sie seinerzeit untergebracht waren. 120 Schülerinnen und Schüler von Gymnasien aus der Region beteiligten sich daran, ebenso etwa 40 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus Israel, den USA und Deutschland.  Und Bewohner aus Waldram, wie Föhrenwald seit 1958 heißt, traten vor ihre Haustür. Viele Begegnungen, Gespräche, Umarmungen, Musik. „Es war ein ganz besonderes Erlebnis, das uns allen sehr nahe gegangen ist“, resümierte Sybille Krafft, Vorsitzende des Badehaus-Vereins.

Ein viertägiges Jubiläumsprogramm hat der Verein „Erinnerungsort Badehaus“ um Vorsitzende Sybille Krafft und ihren Stellvertreter Jonathan Coenen konzipiert und organisiert.
Ein viertägiges Jubiläumsprogramm hat der Verein „Erinnerungsort Badehaus“ um Vorsitzende Sybille Krafft und ihren Stellvertreter Jonathan Coenen konzipiert und organisiert. (Foto: Hartmut Pöstges)

Bis um 3 Uhr früh waren junge Vereinsmitglieder dann noch damit beschäftigt, die Videoaufnahmen zu einem Film zu montieren, der tags darauf beim großen Festakt unter dem Motto „Überlebt. Befreit. Und jetzt?“ in der Aula des Schulzentrums Sankt Matthias über die Leinwand flimmerte. An jenem Ort also, der in der Zeit des Nationalsozialismus für Versammlungen von Beschäftigten der nahen Rüstungsfabriken diente. „Hier gab es Kriegspropaganda und Nazi-Parolen“, so Krafft. Später war das Gebäude die Hauptsynagoge des DP-Lagers, ehe das Lager von 1957 an genutzt wurde, um katholischen Heimatvertriebenen aus Osteuropa ein Zuhause zu geben.

„Föhrenwald war das letzte Schtetl auf europäischem Boden“, sagte Krafft beim Festakt vor Zeitzeugen aus Israel, den USA und ganz Deutschland, Würdenträgern, Politikern, Diplomaten und Wissenschaftlern. Mit diesem Begriff wurden Siedlungen in osteuropäischen Ländern mit hohem jüdischem Bevölkerungsanteil vor dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. In Israel ist der Name dieses Lagers allerdings wenig bekannt, wie Generalkonsulin Talya Lador-Fresher berichtete. Auch der Begriff Displaced Persons sei kaum im Bewusstsein. Anders als Auschwitz, anders als Dachau. Als Tochter eines Holocaust-Überlebenden wisse sie, dass es den Übriggebliebenen viel mehr darum ging, ein neues Land zu bauen, als über die Vergangenheit zu reden. „Das gab den Leuten viel Kraft.“ Dies bestätigte Sharon Lachman-Rosner. Ihre Familie habe nicht über die Shoah gesprochen, sagte sie. Für sie persönlich habe Föhrenwald jedoch als der Platz, an dem ihr Vater zur Welt kam, „natürlich eine Bedeutung“.

Die Stuhlreihen in und vor der Aula waren beim Festakt fast bis zum letzten Platz besetzt, Simultan-Dolmetscher übersetzten die Ansprachen in einer kleinen Kabine ins Englische, draußen patrouillierten Polizeibeamte und Sicherheitsdienste. Rachel Salamander hatte schon zwei DP-Lager und ein Kinderheim hinter sich, als sie nach Föhrenwald kam – ihre Mutter lag im DP-Krankenhaus auf Schloss Elmau. „Ich bin in Deutschland geboren, ohne eine Deutsche zu sein“, sagte sie. Denn ihr Status lautete damals: heimatloser Ausländer.

Von ihrer Kindheit in Föhrenwald erzählten Rachel Salamander ...
Von ihrer Kindheit in Föhrenwald erzählten Rachel Salamander … (Foto: Hartmut Pöstges)
... und Shai Lachmann aus Jerusalem, dessen Vater der erste Leiter des DP-Lagers war.
… und Shai Lachmann aus Jerusalem, dessen Vater der erste Leiter des DP-Lagers war. (Foto: Hartmut Pöstges)

Als Kind ging es ihr im DP-Lager den Umständen entsprechend gut.  Man habe sich durch die Liebe der Erwachsenen geborgen gefühlt. „Das sind die Basis und die Koordinaten meines Lebens.“ Von der heimatlosen Ausländerin bis zur Ehrenbürgerin von München sei es ein langer Weg gewesen, sagte Salamander. Deutliche Kritik übte sie an Publikationen, die Föhrenwald als ein blühendes Zentrum jüdischen Lebens beschreiben. Dies bezeichnete sie als übergriffig. „Hüten wir uns davor, die Geschichte mystifizierend umzuschreiben.“

Shai Lachman aus Jerusalem wurde im Januar 1947 als Sohn polnisch-galizischer Eltern in Föhrenwald geboren. Sein Vater war der erste Leiter des DP-Lagers, ein charismatischer Erzieher und ein glühender Zionist. In den Vierzigerjahren hatte er vor allem vielen jüdischen Waisenkindern aus Polen geholfen, in Israel eine neue Heimat zu finden. Den Koffer, mit dem seine Mutter nach der Zeit im DP-Lager in Israel ankam, hatte Shai Lachmann voriges Jahr dem Erinnerungsort Badehaus vermacht. Er erinnerte in seiner Rede an die Pflicht, dass „die Lektionen der Vergangenheit niemals vergessen werden dürfen“.

Kultusministerin Anna Stolz würdigte die Erinnerungsarbeit des 2012 gegründeten  Badehaus- Vereins.
Kultusministerin Anna Stolz würdigte die Erinnerungsarbeit des 2012 gegründeten  Badehaus- Vereins. (Foto: Hartmut Pöstges)

Die Arbeit des 2012 gegründeten Badehaus-Vereins wurde von allen Rednern nachdrücklich gewürdigt, auch von Kultusministerin Anna Stolz. Dieses Engagement sei „ein Zeichen für gelebte Demokratie“, sagte sie. In einer Zeit, in der Anfeindungen gegen Juden auf den Straßen, in den sozialen Medien und in Universitäten wieder auflebe, sei es wichtig zu zeigen, „dass Antisemitismus, Hass und Hetze bei uns keinen Millimeter Platz haben“. Bayern setze auf eine starke Erinnerungsarbeit, besonders in den Schulen. Und dafür seien Orte wie das Badehaus entscheidend.

In einer kurzen Talkrunde sprachen (von links) die israelische Generalkonsolin Talya Nador-Fresher, Kardinal Reinhard Marx, Sybille Krafft und Antisemitismus-Beauftrager Ludwig Spaenle über die Lehren aus der NS-Zeit.
In einer kurzen Talkrunde sprachen (von links) die israelische Generalkonsolin Talya Nador-Fresher, Kardinal Reinhard Marx, Sybille Krafft und Antisemitismus-Beauftrager Ludwig Spaenle über die Lehren aus der NS-Zeit. (Foto: Hartmut Pöstges)

Beeindruckt von dieser „Kraft der Erinnerung“ zeigte sich auch Kardinal Reinhard Marx. Bis 2010 habe er über die Vergangenheit des Gymnasiums, Kollegs und Fachoberschule Sankt Matthias nichts gewusst, räumte er ein. Ihm sei es wichtig, dass die Verbindung zwischen Christen und Juden immer wieder neu thematisiert werde. „Wir müssen alles tun, das Christen und Juden Schulter an Schulter gehen, und nie wieder gegeneinander.“

Ludwig Spaenle, Antisemitismus-Beauftragter der bayerischen Staatsregierung, erinnerte daran, dass nach dem Zweiten Weltkrieg alle Nazis plötzlich verschwunden waren. Alle Parteimitglieder, alle Augenzeugen der Judenverfolgung, alle „Handwerker des Todes“, die den Holocaust ausführten. Später hätten sie dann Karrieren in allen Teilen der Gesellschaft gemacht. „Es gehört dazu, dass wir das Unrecht, das den Displaced Persons zugefügt wurde, ernst nehmen.“

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