Kultur

67. Dokfilm-Festival in Leipzig: Tanzwut und Genozide | ABC-Z

Es sei wohl der erste Film zu den Massakern des Jahres 1994 in Ruanda, der von einem direkt Betroffenen realisiert worden sei, sagt der kanadische Filmemacher Justice Rutikara im Publikumsgespräch. Dieser Betroffene ist er selbst, damals noch ein sechs Monate alter Säugling. Die Geschichte habe ihm eines Tages sein bis dahin über die Geschehnisse der Vergangenheit schweigender Vater präsentiert.

Sie erzählt davon, wie die junge Familie des auf einer Todesliste der Hutu stehenden Mannes in den Mordwochen durch eine spontane Geste des Kleinkinds und die uneigennützige Hilfe von Nachbarn und Arbeitskollegen des Vaters den Weg zum Flughafen von Kigali (und von dort ins rettende Ausland) fand.

„Ibuka, Justice“ lief im Animationswettbewerb des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm und zeigt im Zusammenspiel von behutsam bewegten Bildern im „ligne claire“-Stil und den Originalstimmen der von Rutikara interviewten Eltern beispielhaft die Möglichkeiten des Trickfilms, Geschichte in der persönlichen Erfahrung Einzelner zu verdichten.

Dabei vermeidet Rutikara bewusst das Zeigen sichtbarer Gräuel – bis auf einen Vorspann, der, so erzählt er, ihm von seinen Produzenten aufgedrängt wurde. Heute sei er sich angesichts der massiven medialen Spektakularisierung der historischen Ereignisse aber nicht mehr sicher, ob dieses Zugeständnis richtig war.

Mit dieser Haltung und der zwischen Animation und Dokumentarischem vermittelnden Form vertritt „Ibuka, Justice“ das Anliegen des traditionsreichen Leipziger Festivals perfekt, auch wenn die Goldenen Tauben für Animation an weniger überzeugende, angesichts der Weltlage fast provokant belanglose Arbeiten gingen: „Pelikan Blue“ (Regie: László Csáki) breitet in Spielfilmlänge und buntem Formenmix banale Große-Jungen-Streiche aus dem Ungarn der Nachwendejahre aus, während der Kurzfilm „On Weary Wings Go By“ der Estin Anu-Laura Tuttelberg auf die ästhetische Überwältigung durch in Stop-Motion fotografierte Mitternachtssonne, schneeglitzernde Natur und exzessive nordische Whiteness setzt.

Massenmord auf Hispaniola

Bei uns weniger bekannt als der ruandische Genozid ist die gezielte Mordkampagne am haitianischen Teil der Bevölkerung mit zehntausenden Opfern, die Diktator Rafael Leónidas Trujillo Molina 1937 in der Dominikanischen Republik anzettelte: ein auf beiden Staaten der Insel Hispaniola bis heute tabuisierter ethnischer Massenmord vor kolonialem Hintergrund, den der haitianische Filmemacher Pierre Michel Jean zum Gegenstand eines Filmprojekts zu den historischen Verletzungen, Fragen von Schuld und Verantwortung und möglicher Versöhnung macht.

„Twice into Oblivion/ L’oubli tue deux fois“ geht mit einer haitianisch-dominikanisch gemischten Gruppe von Theaterleuten in einen thematischen Langzeit-Workshop und auf eine grenzüberschreitende Reise, um gemeinsam die traumatisierenden Folgen der gewaltsamen Ereignisse und rassistische Wahrnehmungsverzerrungen zu bearbeiten – und begegnet mit Henry Noncent auch einem bis heute Überlebenden des Mordens (Silberne Taube).

Heftige (eventuell heilende) Theatralik auch im mit Gold ausgezeichneten deutschen Wettbewerbsbeitrag: „Tarantism revisited“ greift das von Kulturforschern seit der frühen Neuzeit beschriebene Phänomen der süditalienischen Tarantella-Tanzwut auf und rekonstruiert eine ihr gewidmete Feldforschungskampagne der späten 1950er.

In einer materialreichen Montagearbeit aus Originaldokumenten unterschiedlichster Quellen und aktuellen Bildern und Tonaufnahmen entwerfen die Filmemacherinnen und Medienanthropologinnen Anja Dreschke und Michaela Schäuble dabei eine Interpretation des Tarantismus als Ausdruck weiblicher Widerständigkeit und schlagen einen großen, aber überzeugenden Bogen von den Spinnen-Tänzen zu den Zerstörungen der apulischen Landschaft und Landwirtschaft durch das Bakterium Xylella Fastidiosa, dem im süditalienischen Salento schon Millionen von Olivenbäumen zum Opfer fielen – die im Film als brennendes Fanal zu sehen sind.

Bedrohung von 3sat

Insgesamt über 200 Arbeiten standen in der extrem gut besuchten 67. Ausgabe des Festivals im Programm, intelligentes, leidenschaftliches, oft hochreflexives Seh-, Erfahrungs- und Gedankenfutter. Filme, die sich vom thematisch sortierten „Dokuwesen“ deutlich abgrenzen, aber doch auf vielfältigste Weise mit der Welt draußen interagieren und Themen wie Fluchtbewegungen, Kriege und Naturzerstörungen aufgreifen.

Dieses Kino ist auch selbst von der Politik – etwa der aktuellen Rundfunkreform – betroffen, so die (gerade erstmal aufgeschobene) Bedrohung des Kultursenders 3sat durch die geplante Zusammenlegung, die bei vielen angereisten Filmschaffenden heißer Stoff war. Der Sender kofinanziert viele deutschsprachige Dokumentarfilme – und stiftet in Leipzig etwa die 6.000 Euro Preisgeld für die Silberne Taube des langen Dokumentarfilms.

Geleitet wird das Festival seit 2020 von Christoph Terhechte, der im Vorwort des Katalogs den Blick besonders auf die Retrospektive richtet, die sich unter dem schönen Titel „Dritte Wege in der zweigeteilten Welt. Utopien und Unterwanderungen“ widerständigen Filmen widmete, die in der DDR-Zeit des Festivals aus befreundeten Bruderstaaten oder Befreiungsbewegungen ihren Weg ins Programm fanden – oder auch nicht. Zum Kommentar zog am Samstag eine Kleindemo unter dem Motto „Cuba, cuba si, Palestine will be free“ am Leipziger Hauptbahnhof vorbei.

Abgründe einer Familiengeschichte

Lebendige Filmgeschichte auch in einer faszinierenden Arbeit von Dominique Cabrera, die aus einer einzigen (nämlich der titelgebend fünften) Einstellung von Chris Markers legendärem Filmexperiment „La Jetée“ (1962) eine 104-minütige Recherche in die Hinter- und Abgründe der eigenen Familiengeschichte entwirft. Anlass war, dass sich ein Cousin der Regisseurin bei einem Ausstellungsbesuch vor einigen Jahren in einem Standbild des Films auf dem Pariser Flughafen Orly selbst zu erkennen glaubte.

Dort war im Jahr des Filmdrehs auch Cabreras Familie als sogenannte Pieds-noirs aus dem gerade unabhängig gewordenen Algerien nach Frankreich eingereist. Die sich an diese Feststellung anschließende tollkühn weiter verzweigende – und bald auch tief in die Filmgeschichte reichende – Forschungsreise von „La Jetée, the Fifth Shot“ war der Jury die Goldene Taube wert und ergänzte sich perfekt mit einer kleinen Hommage, die der französischen Regisseurin im Programm gewidmet war.

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