Tiktok-Star Clara Lösel stellt erstes Buch „wehe du gibst gen“ vor | ABC-Z

Eine junge Frau stellt ihren ersten Gedichtband vor – und Besucher fast jeden Alters stehen Schlange. Dieser Satz mag wie ein Widerspruch in sich wirken. Denn gemeinhin taucht zeitgenössische deutsche Lyrik selten weit oben in den Bestsellerlisten auf. Doch in diesem Fall ist das anders. Amazon führt den Band „wehe du gibst auf“ von Clara Lösel schon als Bestseller. Das Buch steht zudem bei der Kette Thalia unter den zehn am meisten verkauften Werken, obwohl es an diesem Dienstag erst erscheint.
Sonntag in der Gießener Fußgängerzone. Nach Geschäftsschluss an diesem verkaufsoffenen Tag wird es in einem Schuhhaus am Selterstor richtig voll. 140 Gäste wollen miterleben, wie Lösel ihr erstes Buch vorstellt. Der Band enthält neben anderen Texten 101 Gedichte. „Clartext, der dein Denken verändert“, lautet der Untertitel. Zwanzig Texte wird Lösel vortragen. Jugendliche, Frauen, Männer, darunter auch Besucher mit ausländischen Wurzeln, warten geduldig auf Einlass. Für die Autorin ist es ein Heimspiel: Sie wohnt in Berlin, weilt aber oft an der Lahn. „Ich halte es nicht lange aus, nicht in Gießen zu sein“, sagt Lösel, die in einem Dorf unweit von Gießen aufgewachsen ist und in der Stadt zur Schule ging. Doch diese Verbundenheit erklärt den Zulauf längst nicht allein.
„Faschisten-Döner“ als Millionen-Klicker
Die Mittzwanzigerin erreicht über Tiktok und Instagram bis zu zehn Millionen Menschen. Dabei ist die Tochter eines Lehrer-Ehepaars erst seit anderthalb Jahren auf Social Media als Autorin unterwegs. So richtig Fahrt aufgenommen hat sie mit ihrer sogenannten 100-Tage-Challenge. Lösel machte es sich zur Aufgabe, jeden Tag einen selbst gelesenen Text von sich hochzuladen. „Ich hätte nie mit dieser Resonanz gerechnet“, sagt sie. Schließlich weiß sie aus ihrem Lehramtsstudium: Gedichte sind unter jungen Leuten nicht gerade der letzte Schrei.
Doch mit ihren Gedichten trifft sie bei vielen Menschen fast jeden Alters einen Nerv. Besonders mit dem „Faschisten-Döner“. Darin erzählt sie in Reimform von zwei Neonazis, die sich einen Döner einverleiben wollen, aber im Dunkeln – sie wollen ja nicht gesehen werden. Am Ende haben dank des feinen Humors alle etwas zu schmunzeln – solange sie keine Rechtsextremisten sind.
Lösel wird an anderer Stelle ebenfalls politisch, aber sehr nüchtern („Keine Grenze ist so gefährlich wie die in den Köpfen der Menschen“) und ernsthaft. Und das bei Gedanken über die Selbstverständlichkeit hierzulande, auf offener Bühne dank Meinungsfreiheit einfach Texte vortragen zu können, während in anderen Ländern etwa Frauen dafür drangsaliert und verfolgt werden.
Über die Abhängigkeit von Likes
Vorzugsweise aber nimmt Lösel sich Themen des täglichen Lebens vor, taucht ab in die Gefühlswelt junger Menschen und ihrer inneren Nöte. In „mein elefant“ schreibt sie über Antriebslosigkeit und Essstörungen und die damit verbundene Scham, in „macht“ über einen Mangel an Selbstliebe und die Abhängigkeit vom Urteil anderer – ein zentrales Thema im Zeitalter der Likes. Wenn sie ihre Gedichte vorträgt, gibt sie mit ihrer Stimme die Stimmung wieder. Lösel nimmt ihre Zuhörerschaft mit in ein Wellental der Gefühle. Wer in der einen Minute wegen der gehörten Zeilen einen Kloß im Hals spürt, kann wenige Minuten später bei einem anderen Text befreit auflachen.
Nach jedem Text und nach Ende der Lesung erhält Lösel lebhaften Beifall und strahlt. Bevor die Gäste nach Hause gehen, stehen sie wieder freiwillig Schlange. Dutzende kaufen Lösels Buch und lassen es sich signieren.